Es ist ein unwahrscheinlich seltener Fund und ein einzigartiges historisches Dokument: Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verewigt sich eine jüdische Schulklasse in einem Fotoalbum. Schlägt man es auf, steht dort eine Widmung: „Unserem lieben Lehrer. Als kleine Erinnerung. An die Augsburger Schuljahre 1937 bis 39“. Darin kleben Portraits und Gruppenfotos von einem Ausflug zum Ammersee. Es ist ein Abschiedsgeschenk an ihren Lehrer Fritz Levy, der Anfang 1939 aus Deutschland flieht. In Amerika ändert er seinen Namen: Aus Fritz Levy wird Fred Tuteur.
Leben wird für Juden in den 30ern lebensgefährlich
Anfang November 1938 wurden in ganz Deutschland Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet. Nach den Novemberpogromen wurde das Leben für jüdische Menschen bedrohlicher und sogar lebensgefährlich. Einer der letzten Zufluchtsorte waren die Räume der Augsburger Synagoge, die in der Reichspogromnacht verschont blieb. Dort unterrichtete ein jüdischer Lehrer bis 1939 acht- bis 14-jährige Schülerinnen und Schüler, weil diese keine öffentlichen Schulen mehr besuchen durften. Das jüdische Museum geht heute davon aus, dass es wohl die letzte jüdische Schulklasse in Augsburg war. Ein nun wiederentdecktes Fotobuch zeigt Spuren von jugendlichem Lebenswillen und Unbekümmertheit – trotz des Nazi-Terrors.
Jahrzehntelang liegt das Fotobuch unbeachtet in den USA. Erst im vergangenen Jahr findet es der Sohn des Lehrers, Frank Tuteur, in seiner Garage in Kalifornien. Gidon Lev ist ein entfernter Verwandter, der in Israel lebt, und im Ruhestand Familiengeschichten erforscht. „Wir haben einzelne Fotos von Schülern mit Namen und teilweise sogar mit den Geburtsdaten, sodass es ganz einfach ist für jemand, der schon Familienforschung betrieben hat, mehr herauszufinden“, sagt Gidon Lev.
Schicksal der Kinder weltweit ausfindig machen
Gidon Lev durchforstet Datenbanken im Internet und macht Nachkommen der Schulkinder weltweit ausfindig. Die Geschichte hinter einem Foto findet er besonders eindrücklich. „Das ist das Bild mit Fritz Levy, dem Lehrer, und Erika Scharon. Erika blieb in Augsburg. Sie wurde Zwangsarbeiterin in der Ballonfabrik und wurde dann wahrscheinlich 1943 nach Auschwitz deportiert mit ihrer Familie“, berichtet Gidon Lev. Auf dem Bild im Fotobuch trägt Erika Scharon eine weiße Bluse mit Puffärmeln. Sie lehnt sich an die Schulter ihres Lehrers Fritz Levy und lacht. „Da sieht man ein nettes Mädchen. Zehn Schüler der Klasse werden im Holocaust ermordet, fünfzehn Schülern gelingt es auszuwandern, nur ein Schulkind überlebt den Nationalsozialismus in Deutschland.
Trotz des Nazi-Terrors um sie herum, zeigen die Bilder im Fotobuch Lebensfreude, Lebenswillen und jugendliche Unbekümmertheit. Die Direktorin des Jüdischen Museums Augsburg Schwaben, Carmen Reichert, erklärt, dass man ab und an auf Klassenfotos und einzelne Privatfotos stößt, „aber dass man die ganze Klasse in einem Album versammelt hat, als Schulausflug, was in den 30er-Jahren gar nicht mehr selbstverständlich war, dass sich jüdische Menschen frei bewegen konnten in Deutschland“, das sei etwas ganz Besonders.
Einer der letzten sicheren Räume für Juden
Laut Museumsdirektorin Carmen Reichert verweisen die Fotos auf die letzten sicheren Räume für Jüdinnen und Juden während des NS-Regimes. „Das sind die Orte, wo man unter sich war, wo man keine Angriffe befürchten musste, weil man nicht konfrontiert war mit der nicht-jüdischen Gesellschaft. Und den Schülerinnen und Schülern hat der Lehrer sicher auch sehr viel Sicherheit gegeben und einen Rest Normalität für sie im Alltag erhalten.“ Carmen Reichert vermutet, dass es wahrscheinlich die Eltern und weniger die Schüler selbst waren, die dieses Fotoalbum für den Lehrer gestaltet haben: „Die Eltern haben sich möglicherweise schon gedacht, dass das irgendwie das letzte ist, was von dieser Schulklasse bleiben wird, und es ungewiss war, wer diese Zeit überlebt.“
Das Fotobuch wurde nun dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben übergeben. Zunächst ist es im Depot eingelagert. Aber in einer neu überarbeiteten Dauerausstellung könnte es in Zukunft für alle zu sehen sein.

