Schätzungsweise 600.000 Kunstwerke wurden in der NS-Zeit geraubt oder unter Druck verkauft, viele davon befinden sich heute in öffentlichen Sammlungen und Museen. Ab 1. Dezember können Nachfahren von Holocaust-Opfern nun in strittigen Fällen die neue „Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubgut“ [externer Link] anrufen. Und das – anders als bisher – ohne Zustimmung der Gegenseite.
Die Beratende Kommission, die bislang in Streitfällen vermittelte, konnte nur tätig werden, wenn beide Parteien einverstanden waren. Ein Grund, warum in über 20 Jahren nur 26 Fälle bearbeitet wurden. Die neue Regelung sei eine der entscheidenden Neuerungen auf dem Weg in „eine neue Ära bei der Rückgabe von NS-Raubkunst“, sagt der Bayerische Kunstminister Markus Blume (CSU) und ermuntert Antragsteller, diesen rechtsverbindlichen Weg zu nutzen.
Rechtsverbindliche Schiedssprüche statt Empfehlungen
Die Geschäftsstelle des Schiedsgerichts wird in Magdeburg eingerichtet, beim Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste. 36 Personen bilden den Schiedsrichterpool, der jeweils zur Hälfte von Staat und jüdischer Seite besetzt wurde. Zu ihnen zählen Kunsthistorikerinnen, Provenienzforscher und Juristinnen.
Beide Streitparteien wählen aus diesem Pool je zwei Personen, zusammen bestimmt das Quartett noch einen Vorsitz. Fünf Schiedsrichter entscheiden also künftig über einen Fall. Und das: rechtlich verbindlich, die Kommission konnte nur Empfehlungen aussprechen. In einem Fall war diese tatsächlich erst Jahre später auf medialen Druck hin umgesetzt worden.
Raubkunstexperte kritisiert Regelwerk
Trotzdem herrscht unter Anwälten jüdischer Erben gerade keine Jubelstimmung. Kritisch sieht man vor allem den Bewertungsrahmen, also das schriftliche Regelwerk des Schiedsgerichts. Bei Verkäufen im Ausland zum Beispiel könnte es für Erben schwieriger werden, Kunstwerke zurückzufordern, glaubt etwa der Raubkunst-Experte Willi Korte.
„Es ist für mich ein Regelwerk, das die Seite der Museen stärkt, nicht die Seite der Anspruchsteller. Und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass das auch so beabsichtigt war“, sagte Korte kürzlich im ARD-Interview.
Die Befürchtung: dass die Erben nun schlechter gestellt sind als früher, wenn das Kunstwerk im Ausland verkauft wurde – also nicht direkt unter NS-Herrschaft, sondern auf der Flucht oder im Exil. Andere Fachleute widersprechen, etwa der Bonner Kunstrechtler Matthias Weller.
Lion-Erben gehen nicht vor Schiedsgericht
Die Erben der jüdischen Münchner Kunsthandlung Lion jedenfalls ziehen vorerst nicht vor das Schiedsgericht. Sie streiten mit den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen um das Biedermeiergemälde „Mädchen mit Strohhut“, das seit 1935 den Staatsgemäldesammlungen gehört.
Auch Anwalt Hannes Hartung stört sich an Details des Bewertungsrahmens, im Fall der Lions vor allem an Passagen, die seiner Ansicht nach jüdische Kunsthändler schlechter stellen als jüdische Privatpersonen. Weil fünf von sieben Erben in den USA leben, sieht Hartung derzeit für seine Mandanten bessere Chancen vor einem US-Gericht.
Bayerns Kunstminister weist die Kritik zurück. Die Beratende Kommission habe bei ihren Empfehlungen „ein Stück weit aus der Hüfte heraus“ entschieden. Nun gebe es zum ersten Mal einen differenzierten Bewertungsrahmen, der laufend evaluiert werde.
Endlich Entscheidung für Picassos Madame Soler?
Bewegung könnte auch in den Fall der „Madame Soler“ kommen. Seit inzwischen 16 Jahren fordern Nachfahren des jüdischen Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy das Picasso-Gemälde von den Staatsgemäldesammlungen zurück.
Den Gang vor die bisherige Beratende Kommission hatte der Freistaat noch verweigert, weil eigene Forschungen den Raubkunst-Verdacht entkräftet hätten. Jetzt wollen die Erben das Schiedsgericht anrufen. Der Freistaat Bayern werde mit jedem Ergebnis leben, so der Kunstminister, und hält es für „wichtig und richtig, dass es dann zu einem Schlusspunkt kommt.“ Die anhaltenden Diskussionen seien auch eine Reputationsbelastung für die Staatsgemäldesammlungen, so der Minister im BR24-Gespräch.
Jüdische Verbände: Schiedsgerichte nur Zwischenschritt
Die beiden wichtigsten jüdischen Interessenverbände blicken positiv auf den Start der Schiedsgerichtsbarkeit. Für sie überwiegen die Vorteile, etwa die einseitige Anrufbarkeit des Schiedsgerichts.
Beide Verbände erneuern aber immer wieder ihre Forderung nach einem Restitutionsgesetz. Das könnte auch NS-Raubkunst in privater Hand einschließen. Hier haben jüdische Erben wegen des Ablaufs der Verjährung bisher keine Chance, Rückgaben durchzusetzen. Ein Gesetz müsste dabei regeln, dass heutige Eigentümer vom deutschen Staat entschädigt würden. Als Vorhaben steht es im Schwarz-Roten Koalitionsvertrag.

