„Gute Fahrt!“ Mit diesem Wunsch schicken die Verkehrsforscher Peter Zeile vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Jochen Eckart von der Hochschule Karlsruhe einen Test-Radler auf den Weg. Sein Fahrrad ist mit modernster Sensorik ausgestattet. Ultraschall- und Lasermessgeräte erfassen den Abstand der überholenden Autos während des gesamten Vorgangs, GPS zeichnet den Routenverlauf auf und eine 360-Grad-Helmkamera dokumentiert das Geschehen. Auch der Fahrer selbst ist verkabelt. Sensoren messen seine Hautleitfähigkeit, das sein Stress-Level anzeigt.
Mit Sensoren den Stress der Radler messen
„Wir wollen wissen, wie Radfahrer den Straßenverkehr wirklich erleben, aus ihrer Perspektive“, erklärt Jochen Eckart. Es geht also nicht mehr nur um Beobachtungen von außen, sondern um konkrete Messungen in den Situationen auf dem Rad. Eine „Eye Tracking“-Kamera zeichnet sogar die Augenbewegungen des Fahrers auf: Worauf konzentriert er sich? Wodurch fühlt er sich bedroht? Die Forscher, so Eckart, schauen ihm quasi beim Denken zu und bekommen so einen tiefen Einblick in den emotionalen Stress während der Fahrt.
51 Stressmomente in einer Viertelstunde
Nach einer Viertelstunde endet die Testfahrt. Sie ist eine von insgesamt 7.000 Testfahrten in mehreren Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf 22 typischen, städtischen und ländlichen Rad-Strecken. Peter Zeile sichtet die Daten: „51 Stressmomente hatte unser Fahrer, das ist ganz schön viel“. Die Auswertung zeigt: Sie ereignen sich vor allem dann, wenn ein Auto dem Radfahrer zu nahe kommt, etwa beim Überholen.
Stress-Faktor Überholmanöver
Sven Leitinger und Hannah Wiese vom Institut Salzburg Research haben sich bei ihren Messungen [externer Link] auf den Überholvorgang konzentriert und dabei „Erschreckendes“ festgestellt, so Leitinger: Bei rund der Hälfte der Überholvorgänge war der Abstand der überholenden Autos kleiner als die vorgeschriebenen 1,5 Meter – bei einem Viertel sogar weniger als einen Meter. Dabei geht es nicht einfach nur um die Einhaltung eines Zahlenwertes, so Wiese: „Aus Studien wissen wir, dass Abstände unter 1,5 Meter den Radfahrer extrem stressen.“
Autofahrer schätzen Abstände falsch ein
Selbst markierte Radwege schützen nicht ausreichend. Viele Autofahrer orientieren sich an der gestrichelten Linie, doch der abgetrennte Streifen selbst ist oft weniger als 1,5 Meter breit. Das bedeutet: Die Autos kommen den Radfahrenden zu nahe, wenn sie sich an der Linie orientieren. „Es wäre gut, wenn Autofahrer sich selbst mal aufs Rad setzen, um beide Perspektiven zu verstehen“, meint Leitinger.
Umstieg aufs Rad hilft auch Autofahrenden
Für das Forscher-Team ist stressfreies Radfahren wichtig, damit mehr Menschen gewillt sind, vom Auto aufs Rad umzusteigen. Das würde die Straßen entlasten. Auch Autofahrer selbst hätten also etwas davon, denn es käme zu weniger Staus.
Das Team schlägt, je nach Straßenbreite, unterschiedliche Maßnahmen vor. Bei Fahrbahnen, die zwischen 6,5 und 9,5 Meter breit sind, sollten die Radstreifen zwei Meter breit sein. Die Autos würden dann dazwischen, auf der sogenannten Kernfahrbahn fahren. Kommt es zwischen den Autos zu Gegenverkehr, so Leitinger, können sie auf den Radstreifen ausweichen, aber unter Beachtung des Vorrangs des Radverkehrs dort. Bei schmaleren Straßen lässt sich das nicht umsetzen. Hier sollten auf die Fahrbahn große Hinweise, Piktogramme und sogenannte „Sharrows“ gemalt werden, dass Fahrradfahrende Vorrang haben. Sharrows sind große Pfeil-Symbole, die signalisieren sollen, dass die Straße auch von Fahrradfahrern benutzt wird und diese beachtet werden müssen. Generell sollte auf solchen Straßen Tempo 30 gelten.
Fehlender Mut und fehlender politischer Wille
Die Verkehrsexperten kritisieren, dass häufig der politische Wille fehle, solche Maßnahmen umzusetzen. Manche Parteien würde vor allem gemäß der Wählerstimmen der Autofahrenden handeln. Jüngst, so Leitinger, wurden sogar in vielen Städten, wie etwas Berlin und München sogenannte Pop-Up-Radwege wieder abgebaut. In Salzburg hingegen gäbe es eine „sehr gute politische Konstellation“, die demnächst die Vorschläge des Teams umsetzen und testen werde. Sein Kollege Jochen Eckart pflichtet ihm bei: „Es sind nicht die Autos, die eine Stadt lebendig und lebenswert machen. Es sind die Fußgänger und Radfahrer.“