Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin hat schon seit vielen Jahren eine Wohnung in Berlin. Mit Beginn des Ukraine-Kriegs ist er ganz dort hingezogen. Auf die Frage, was er an seiner Heimat am meisten vermisse, hat er einmal geantwortet: den Schnee. „Der Schneesturm“ – so heißt auch ein Buch Sorokins. Schnee ist darin allerdings nichts, wonach sich Menschen sehnen würden, sondern eine bedrohliche Naturgewalt. Die Erzählung handelt von einem Landarzt, der sich in heftigem Schneegestöber auf dem Weg in ein entlegenes Dorf macht, um dessen Bewohner gegen eine mysteriöse Seuche zu impfen. Bei den Salzburger Festspielen hat nun Sorokins Landsmann Kirill Serebrennikov, der ebenfalls im Berliner Exil lebt, den „Schneesturm“ für die Bühne adaptiert.
Zwei Exil-Russen auf Salzburger Bühne
Flocken tanzen als Video-Projektion auf einem Gaze-Vorhang zwischen Bühne und Zuschauerraum. Kunstschnee in beträchtlicher Menge rieselt von der Decke und wird immer wieder von Laubbläsern aufgewirbelt. In diesem Gestöber macht sich der Kutscher Kosma gemeinsam mit seinem Passagier Doktor Garin auf den Weg in ein entlegenes Dorf, wo eine rätselhafte Krankheit Menschen in gefährliche Zombies verwandelt. Garin will unbedingt dorthin, um die Dorfbewohner zu impfen – egal wie gefährlich die Fahrt ist.
Ist es hehrer Idealismus, der den Doktor antreibt, oder schiere Überheblichkeit? So oder so: Garin scheitert. Er wird nie ans Ziel kommen. Stattdessen lösen sich nach und nach die Grenzen zwischen Fiktion und Realität auf, gerade so wie in dichtem Schneetreiben Konturen verschwimmen. Unterwegs begegnen Garin und Kosma allerhand wunderlichen Wesen, die auch den fiebrigen Hirnen des vom Kältetod bedrohten Duos entsprungen sein könnten.
Überzeugend: August Diehl und Filipp Awdejew
Kirill Serebrennikow hat Vladimir Sorokins Erzählung als überbordenden Theater-Trip inszeniert. August Diehl gibt den Arzt Garin, dessen Entschlossenheit signalisierender Blick aus verkniffenen Augen einem zunehmend wahnwitzigen Flackern weicht. Ebenfalls bewundernswert: Filipp Awdejew als verschrobenes Faktotum Kosma. Daneben spielen neun weitere Akteurinnen und Akteure, nicht nur sämtliche Gestalten, die den beiden unterwegs begegnen, sie verkörpern auch weiß gewandet den Schneesturm. Sie umtanzen die Reisenden mit wehenden Umhängen, betören sie mit sirenenartigen Gesängen und vernebeln ihnen so zusehends die Sinne.
Eher subtile Anspielung auf russische Gegenwart
Serebrennikow lässt verschiedene Genres verschmelzen: Objekttheater, Videokunst, Schauspiel. Dazu Live-Musik, Gesang und Tanz. Ein virtuoses Vexierspiel. Eine explizite Abrechnung mit Putins Russland aber ist der Abend eher nicht. Klar, Sorokins Erzählung lässt sich als Parabel auf die Zombifizierung der russischen Gesellschaft lesen, die in ewiger Eiszeit versinkt, unerreichbar für jede Rettung. Vor allem aber ist „Der Schneesturm“ eine Reise zu menschlichen Urängsten, deren Kern die Todesangst ist.
Doktor Grarin, der glaubt, es mit der Naturgewalt aufnehmen zu können, muss am Ende erkennen, wie fragil und damit auch kostbar die menschliche Existenz ist. Angesicht des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine lässt sich das freilich auch als – wenn auch eher subtiles – politisches Statement verstehen.