Nun steht es fest, was in Kritikerkreisen schon vielen klar war: Mascha Schilinksis „In die Sonne schauen“ geht für Deutschland ins Oscar-Rennen. Die Jury von German Films schreibt zur Begründung, der Film sei formal kompromisslos, emotional existenziell und künstlerisch einzigartig – ein Solitär des deutschen und internationalen Kinos.
„Ein Werk von seltener Dringlichkeit, meisterlich inszeniert, poetisch, universell, mutig. ‚In die Sonne schauen‘ ist ein körperliches Erlebnis, das nachhallt und sich ins Gedächtnis brennt.“ Regisseurin Mascha Schilinksi darf sich nach dem Preis der Jury bei den Filmfestspielen von Cannes auch über die Nominierung für das Rennen um den besten internationalen Film freuen. Das zeige, dass es sich lohne, an die eigene künstlerische Vision zu glauben, so Schilinski.
Leben von vier Frauen über ein Jahrhundert hinweg
Ein totes Mädchen sitzt auf einem Canape: strenge blonde Zöpfe, schwarzes Kleid. Die Fotografie ist verschwommen. Ein Totenbild – wie aus dem Gruselfilm „The Others“. Doch für die Mädchen, die sich neugierig davor aufgestellt haben, gehört so etwas zum Alltag: „Wer ist das Mädchen? – Das ist Alma. Sie sieht aus wie du. Vielleicht ist ja ihr Geist in dich übergegangen.“
Das eine Mädchen sieht tatsächlich aus wie die Tote – wie ihre Schwestern auf Plattdeutsch behaupten – und sie heißt auch so: Alma. Die Idee, dass auch sie sterben muss, lässt die lebendige Alma von nun an nicht mehr los. Und der Tod ist immer da. Alma lebt zur Zeit des Ersten Weltkrieges auf einem Vierseitenhof in der Altmark, einer bis heute abgelegenen Region im nördlichen Sachsen-Anhalt. Sie erlebt alles um sich herum mit fiebriger Intensität. „In die Sonne schauen“, der als deutscher Beitrag bei den Oscars in der Kategorie „Bester internationaler Film“ ins Rennen geht, erzählt aber auch von Erika, Angelika und Nelly, die ebenfalls an diesem Ort leben, jedoch nicht zur selben Zeit.
Inspiriert wurde der Film durch eine Fotografie von vor 100 Jahren
Angelika zum Beispiel ist eine Teenagerin in den 80er Jahren. In der DDR. Ihr Schwimmlehrer ist ihr Onkel, der ihr begehrliche Blicke zuwirft. Ihr Cousin tut es ebenso. Angelika fühlt sich in die Enge getrieben, während sie zugleich ihr eigenes sexuelles Erwachen erlebt. „Ich hab oft so getan, als würde ich nicht merken, wie sie mich angucken, als wäre ich ganz versunken in meinen Gedanken, dabei war eigentlich ich es, die sie heimlich dabei beobachtet hat, wie sie mich anschauen.“
Inspiriert wurde der Film durch eine Fotografie von vor 100 Jahren, erzählt Regisseurin Mascha Schilinski. Sie und ihre Co-Autorin Louise Peter fanden das Bild von drei Frauen an ihrem späteren Drehort: „Die stehen mitten auf diesem Hof, umringt von Hühnern und gucken direkt in die Kamera und überhaupt nicht inszeniert oder gestellt, sondern so aus der Bewegung heraus.“ Und dieser Blick von diesen drei Frauen, die auch im unterschiedlichen Alter waren, „hat uns total berührt, weil es eben dieser Blick durch die vierte Dimension war und uns direkt angeblickt hat“.
Durch ihre Blicke stehen die Film-Protagonistinnen miteinander in Verbindung. Es ist, als ob sie durch die Zeit hindurchblicken. Erzählt wird nicht chronologisch, sondern momenthaft und assoziativ. Es ist ein Strom von Bildern, in dem auch Gedanken auftauchen, Stimmen, Erinnerungsfragmente. Aus der subjektiven Wahrnehmung wird eine intersubjektive Erzählung. Und wie das montiert ist, hat eine berauschende Wirkung. Dabei ist es nicht nur das große Thema der Vergänglichkeit, das der Film auf so sinnliche wie unkonventionelle Weise abbildet, sagt Schilinski. „Es geht natürlich in dem Film auch darum, welchen Blicken Frauen ein Jahrhundert lang unterworfen sind. Und diese Frauen in diesem Film, könnte man sagen, blicken halt auch zurück.“
Die Erfahrungen der Ahnen haben sich dem Ort eingeprägt
„In die Sonne schauen“ bildet eine kollektive, vielleicht auch metaphysische Erfahrung ab. Und es ist der bemerkenswerte Versuch, das Kino von alten Erzählformen zu entstauben, zugunsten eines Erzählens, das mehr der Erinnerung und dem Traum ähnelt. Die Welt hinterlässt ihren Abdruck auf der Netzhaut.