Der deutsche Historiker und Osteuropa-Experte Karl Schlögel hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche verliehen bekommen. In seiner Dankesrede appellierte er an die „friedensverwöhnten“ Deutschen: „Die Bürger und Bürgerinnen der Ukraine lehren uns, dass das, was geschieht, nicht Ukraine-Konflikt heißt, sondern Krieg. Sie helfen uns zu verstehen, mit wem wir es zu tun haben: mit einem Regime, das die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten will und das Europa hasst“. Den russischen Präsidenten Wladimir Putin bezeichnete er als „Meister der Eskalationsdominanz“: „Die Angst ist seine wichtigste Waffe.“
Seit der russischen Annexion der Krim 2014, spätestens aber seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 wird Schlögel von einer breiten deutschen Öffentlichkeit als fundierter Kenner osteuropäischer Geschichte wahrgenommen. Zum zweiten Mal hintereinander nimmt der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Osteuropa in den Blick. Im vergangenen Jahr wurde die Publizistin Anne Applebaum geehrt, ebenfalls als Analytikerin der autoritären Entwicklung Russlands.
Laudatio von Katja Petrowskaja
In ihrer Laudatio schilderte die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja, wie sie Schlögel 2022, wenige Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, auf einer Demo in Berlin traf, eingehüllt in eine ukrainische Flagge. „Ihre öffentliche Verzweiflung hat uns damals sehr geholfen, wie auch Ihre Fähigkeit, sich aufzurichten und weiterzumachen, trotz allem. Wir wussten: Wir sind nicht allein. Danke, dass Sie sich immer wieder zu Wort melden.“
Petrowskaja erinnerte auch daran, dass Schlögel sie dafür um Verzeihung gebeten habe, dass er diesen Krieg nicht habe kommen sehen. Auf eine solche Bitte um Entschuldigung von Politikern und Politikerinnen, die Putin auch nach der Krim-Annexion weiter hofiert hätten, warte sie bis heute, sagte Petrowskaja.
Begründung der Jury
Seine Forschung prägt eine ungewöhnliche Herangehensweise, die das Recherchierte mit persönlichen Wahrnehmungen von Orten verfeinert. In seinem Werk verbinde Karl Schlögel „empirische Geschichtsschreibung mit persönlichen Erfahrungen“, heißt es in der Urkunde des Stiftungsrats. Diese verlieh ihm die scheidende Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs. Sie bezeichnete ihn als Flaneur: „Er durchwandert Städte und Landschaften, er ist ein Archäologe, der Raum und Zeit abschichtet und jede Scherbe, die er aufhebt, wird durch ihn zu einem funkelnden Kaleidoskop der Geschichte.“
Schlögels Leben und Werke
Karl Schlögel wurde 1948 im Unterallgäu in der Nähe von Memmingen in eine Bauernfamilie hineingeboren. Schon zu Schulzeiten begann seine Faszination für Osteuropa. Im Klosterinternat lernte er Russisch, reiste als Jugendlicher nach Russland und Tschechien und erlebte vor Ort den Prager Frühling. Er studierte osteuropäische Geschichte und heiratete die russische Schriftstellerin Sonja Margolina. Als Pendler zwischen Ost und West, kann er heute nicht mehr nach Russland reisen aufgrund des Risikos, festgenommen zu werden.
Schlögel sieht seine Städtereisen nach Kiew, Lwiw oder Charkiw als Form der wissenschaftlichen Erkundung. Denn Geschichte finde nicht nur zeitlich statt, sondern auch an Orten. In seinen Werken verbindet er seine persönlichen Beobachtungen mit einer raumbezogenen Geschichtsschreibung, etwa in „Die Mitte liegt ostwärts“, „Terror und Traum“ oder in seinem vor Kurzem erschienenen Buch „Auf der Sandbank der Zeit“.
Über 700 Gäste in der Frankfurter Paulskirche
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt Schlögel vor mehr als 700 Gästen in der Frankfurter Paulskirche, darunter Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (CDU) und Bundestags-Vizepräsident Omid Nouripour (Grüne). Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef lobte, dass Schlögel jederzeit bereit sei, frühere Ansichten zu korrigieren. Er betonte die Bedeutung der Städtepartnerschaft zwischen Frankfurt am Main und Lwiw.
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 verliehen und ist mit 25.000 Euro dotiert. Mit der Ehrung Schlögels geht die 77. Frankfurter Buchmesse traditionell zu Ende.
Mit Informationen der dpa.

