Wer schon vor dem diesjährigen Chopin-Wettbewerb in Warschau ein Fan des Gewinners Eric Lu war, der musste von der ersten Runde an zittern. Denn das technische und musikalische Niveau des weltweit renommierten Klavier-Wettbewerbes war auch in diesem Jahr wieder enorm: Außergewöhnlich viele der 84 Kandidaten waren nicht nur auf pianistischem Gebiet atemberaubend makellos, sondern spielten auch noch musikalisch berührend und mit viel Gefühl. Wie sollte es da ein persönlicher Favorit auch nur in die Finalrunde schaffen?
Beinahe vorzeitiges Aus des Gewinners wegen Krankheit
Noch dazu erkrankte Lu in der dritten Runde und konnte nicht zum geplanten Termin am vergangenen Mittwoch auftreten, weshalb ihm die Jury am Tag darauf nach dem letzten regulären Vorspiel noch eine Chance gab. Da trat der 27-Jährige dann sichtlich gezeichnet und erschöpft auf die Bühne und schaffte es tatsächlich mit zehn weiteren Kandidaten ins Finale, das von Samstag bis Montag stattfand.
Laut den Statuten des Wettbewerbes waren eigentlich nur zehn Finalistinnen und Finalisten vorgesehen, doch der elfte Kandidat hatte von der 17-köpfigen Jury genauso viele Punkte bekommen wie der zehnte und wurde damit ausnahmsweise zugelassen.
Grandioses Finale mit elf Teilnehmenden
Im Finale mussten die Wettbewerber nicht nur eines der beiden Klavierkonzerte von Frédéric Chopin gemeinsam mit dem Warschauer Philharmonischen Orchester bestreiten, sondern zum ersten Mal auch das nicht leicht zugängliche Solo-Spätwerk des Komponisten, die „Polonaise-Fantaisie“ in As-Dur, Opus 61.
Nach dem letzten Tag der Finalrunde am Montag mussten die Kandidaten stundenlang auf die Ergebnisse warten. Um halb drei Uhr morgens trat die Wettbewerbsleitung dann vor Presse und Kandidaten und machte es spannend bis zum Schluss. Zunächst wurden die kleineren Preise – etwa für die beste Mazurka oder die beste Polonaise – bekannt gegeben. Dann die sechs Hauptpreise. Den zweiten Preis bekam der 20 Jahre alte Kanadier Kevin Chen und den dritten Preis die Chinesin Zitong Wang.
Eric Lu überwältigt und gerührt: „A dream comes true“
Eric Lu musste die Spannung bis zum Schluss halten, denn der erste Preis wurde dann erst verkündet. Er reagierte offensichtlich tief berührt, wenn nicht sogar schockiert auf diese überwältigende Nachricht. Es ist zwar der Jugendtraum vieler Pianisten, einmal auf dem Siegertreppchen dieses international berühmten Wettbewerbes zu stehen. Wenn es dann aber soweit ist, kann man es wohl schwer glauben. Gerührt dankte er der Jury für die Ehre und den Chopin-Fans in aller Welt, die den Wettbewerb etwa auf Youtube [externer Link] mitverfolgt hatten, für ihre Unterstützung. Und fügte hinzu: „A dream comes true.“
Starallüren kann man dem zurückhaltenden jungen Mann nicht nachsagen. Schüchtern tritt er vors Publikum, setzt sich und spielt auf innige Weise, dass man an seinem Gesicht immer ablesen kann, wie tief ihn die Musik bewegt. Den Applaus nimmt er gewöhnlich gefasst und bescheiden entgegen. Seit seinem vierten Preis in Warschau vor zehn Jahren hat er sich einige Bühnen der Welt erobert, hauptsächlich in Asien und in den USA, und spielte mit großen Orchestern in London, Boston, Chicago oder Tokio zusammen.
Feinfühliger Pianist der leisen Töne
Neben Chopin beschäftigte sich der 27-jährige Lu in den letzten Jahren viel mit der Klaviermusik von Franz Schubert und hat 2023 etwa einen berührenden Schubertabend mit Standing Ovations in Hamburg gegeben. Zwar beherrscht er selbstverständlich und unangestrengt eine makellose pianistische Technik, sein Repertoire ist aber vor allem durch tief-musikalische Werke geprägt, und er ist auch pianistisch ein Mann der leisen Töne. So finden sich auf seiner CD mit Chopins 24 Préludes etwa auch die „Geistervariationen“ von Robert Schumann, deren Interpretation ihresgleichen sucht. 2018 gewann er den ebenfalls hochkarätigen Leeds-Wettbewerb.
Vor Eric Lu haben Klaviergrößen wie Bruce Liu (2021), Krystian Zimerman (1975), Martha Argerich (1965) oder Maurizio Pollini (1960) den Wettbewerb gewonnen. Somit kann er mit dem Chopin-Preis jetzt auf eine internationale Karriere hoffen. Der erste Preis ist zudem mit 60.000 Euro dotiert.
Ein Land im Chopin-Fieber
Für Polen ist der alle fünf Jahre stattfindende Wettbewerb ein nationales Ereignis, da Frédéric Chopin gebürtiger Pole war. Die Eintrittskarten für die vier Wettbewerbsrunden im Warschauer Konzerthaus waren in kürzester Zeit ausverkauft, die Schlangen vor den Eingängen reichten bis weit auf die Straße und der Zuschauerraum war meist bis auf den letzten Platz besetzt.
Alle Vorspiele wurden jedoch – etwa auf Youtube – gestreamt und sind weiterhin dort abrufbar. Zehntausende Fans aus aller Welt verfolgten gleichzeitig die Livestreams und kommentierten die Leistung der Teilnehmenden im Sekundentakt. Dort sind im Übrigen auch die Vorspiele des damals 17-jährigen Eric Lu im Jahr 2015 nachzusehen.

