Bilden sie eine Straße in der Küche oder kitzeln sie unter dem T-Shirt, werden Ameisen eher als Plage betrachtet. Und doch sind sie faszinierend: Obwohl sie kaum etwas sehen, funktionieren sie perfekt im Kollektiv – sie pflegen zusammen ihren Nachwuchs, schaffen Nahrung für die Gemeinschaft herbei, bauen gemeinsam hochkomplexe Nester, sind außerordentlich zäh und ziehen, wenn notwendig, auch gemeinsam in den Krieg.
All diese Facetten haben auch Maurice Maeterlinck in Bann gezogen. Berühmt wurde der Dichter und Literaturnobelpreisträger durch sein Theaterstück „Pelleás et Melisande“. Als Hobby-Imker interessierte sich Maeterlinck jedoch auch sehr für Insekten. Nachdem er zwei sehr erfolgreiche Bücher über Bienen und Termiten geschrieben hatte, legte er 1925 nach, mit „Das Leben der Ameisen“. 100 Jahre später bringt der Wiener Czernin Verlag jetzt diese halb naturwissenschaftliche, halb kulturgeschichtlich-philosophische Abhandlung wieder auf Deutsch heraus.
Maeterlincks Betrachtungen über Ameisen immer noch aktuell
„Es gibt keine Rangordnung in den Wissenschaften“, postuliert Maurice Maeterlinck in der Einleitung seines Essays. Um gleich im nächsten Satz auf die existentielle Bedeutung seines Sujets hinzuweisen: „Die Ameisenforschung ist eine Wissenschaft, welche noch dazu mehr als manche andere die denkbar tragischsten Fragen aufwirft und die Grenzen des verstandesmäßig Fassbaren streift.“
Es ist Maeterlincks sprachliche Brillanz, die es immer noch zu einem Vergnügen macht, „Das Leben der Ameisen“ zu lesen. Aber nicht nur das. Maeterlinck erinnert uns daran, wie Wissenschaft funktioniert: Akribische Arbeit geht mit Entdeckungen einher, aber auch mit Fehlern und Rückschlägen. So erfahren wir vom französischen Ameisenforscher R.-A. Réaumur, der im 17. Jahrhundert die Entstehung einer Ameisenkolonie in all ihren Facetten beschreibt, um dann Ameisen mit Termiten zu verwechseln.
Maeterlinck als Vorreiter der „Schwarmintelligenz“
Im Mittelpunkt des Essays stehen jedoch Maeterlincks Überlegungen zum Volkstaat der Ameisen. Wie kann es sein, dass er so gut funktioniert? Woher weiß jedes einzelne Tier, was zu tun ist? Gibt es so etwas wie eine kollektive Intelligenz? Maeterlinck kann darauf keine Antwort geben und doch ist sein Denken sehr modern, nur einen Schritt entfernt vom heutigen Begriff der Schwarmintelligenz.
Die Ameise als „Organ der Wohltätigkeit“
Maeterlinck war Symbolist, für ihn steht der Ameisenstaat für eine perfekt ausbalancierte soziale Struktur. Eine Struktur, wohlgemerkt, die auf einer absolutistischen Hierarchie beruht: An oberster Stelle steht die Königin, und jede Arbeiterin verrichtet ihre Aufgabe, ohne sie zu hinterfragen. Maeterlinck, der kein Kommunist war, sondern im Alter eher mit dem Faschismus geliebäugelt hat, sieht ein, dass dieses System nicht auf den Menschen übertragbar ist. Trotzdem fragt er sich: Was wäre, wenn wir, gleich der Ameise, völlig in den Dienst der anderen stünden? Seine Antwort: „Leider sind wir so beschaffen, dass das Gegenteil der Fall ist.“
Maeterlinck weiß, wovon er spricht, er hat das Grauen des Ersten Weltkriegs erlebt. Seine äußerst lebendigen und dramatischen Beschreibungen der Schlachten zwischen Ameisenstaaten spiegeln das wider. Auch die Frage der ewigen Unzufriedenheit des Menschen beschäftigt ihn. Er ist davon überzeugt, „dass die Ameise lange nicht so unglücklich ist, wie der Glücklichste unter uns.“
„Das Leben der Ameisen“ ist vielleicht kein Buch, das man in einem Zug durchlesen, aber doch immer wieder zur Hand nehmen möchte. Weil es unterhaltsam ist, stilistisch ein Genuss. Und weil es zur Reflektion über das eigene Dasein einlädt, über die Art, wie wir als Gemeinschaft miteinander umgehen.
„Das Leben der Ameisen“ von Maurice Maeterlinck, übersetzt von Käthe Illch ist bei Czernin erschienen und kostet 25 Euro.

