Ein Klempner mit roter Mütze hüpft über Schildkrötenpanzer, Pac-Man jagt Punkte durch neonleuchtende Labyrinthe, eine Pirateninsel lädt zum Rätselraten ein – Szenen, die fest zur kulturellen DNA der digitalen Spiele gehören. Wer ein Buch mit dem Titel „Computerspiele – 50 zentrale Titel“ in der Hand hält, rechnet mit genau solchen ikonischen Momenten: mit Klassikern, Meilensteinen, mit dem, was man gemeinhin als den Kanon der Videospielgeschichte verstehen würde. Doch der von Daniel Martin Feige und Rudolf Inderst herausgegebene Band schlägt einen anderen Weg ein – und genau das macht ihn interessant.
Klassiker & Kuriositäten
Zwar sind ludologische Meilensteile wie „Doom“, „Pong“ oder „The Secret of Monkey Island“ vertreten. Doch neben ihnen finden sich auch weniger naheliegende Werke wie „Everything“, eine interaktive Meditation über das Sein, oder „The Binding of Isaac“, das religiöse Traumata in Spielmechaniken übersetzt. Mit „Die Siedler“ schafft es zudem ein Spiel in die Auswahl, das zwar im deutschsprachigen Raum Kultstatus genießt, international wohl aber kaum als „zentraler“ Titeln durchgehen würde.
Mindestens genauso aufschlussreich wie die Auswahl ist allerdings das, was fehlt. Weder „Civilization“ noch „SimCity“ oder „Half-Life“ sind unter den 50 Titeln vertreten – drei Spiele, die man sonst fast reflexartig in jede Liste großer Klassiker aufnehmen würde. Die Herausgeber machen jedoch deutlich, dass es ihnen nicht um eine endgültige Bestenliste geht. Stattdessen verstehen sie den Band als exemplarischen Ausschnitt, als Einladung zum Nachdenken über das, was Spiele relevant macht – sei es formal, ästhetisch oder gesellschaftlich.
Ein Kanon, der keiner sein will – und doch einer ist
Gleichzeitig betonen sie aber auch, dass eine solche Auswahl nicht neutral bleibt. Wer eine Liste veröffentlicht, erzeugt Wirkung – ob man will oder nicht. Denn selbst ein bewusst unvollständiger Kanon wird gelesen wie ein endgültiger. Und genau darin liegt seine Kraft – und seine Angreifbarkeit.
Die Schwierigkeit, Computerspiele zu kanonisieren, liegt nicht zuletzt in der Natur des Mediums selbst. Während sich Literatur oder Film noch relativ klar entlang von Gattungen und Rezeptionstraditionen sortieren lassen, sind digitale Spiele extrem vielfältig. Unterschiedliche Plattformen, Zielgruppen, Genres und Spielmodi machen Vergleiche schwierig. Ein storylastiges Dialogspiel wie „Disco Elysium“ funktioniert völlig anders als ein reflexgetriebenes Fußballspiel – und doch zählen beide zur gleichen kulturellen Form.
Die Siedler: Wuseln & Arbeiten
Das Buch nimmt diese Vielfalt ernst. Die Beiträge – verfasst von Kulturwissenschaftlern, Historikern, Philosophen, Journalisten und Entwicklern – setzen unterschiedliche Akzente. Nicht Verkaufszahlen sind ausschlaggebend, sondern die Frage: Was lässt sich an einem Spiel erkennen – über unsere Kultur, über Gesellschaft, über die Geschichte des Mediums selbst? So wird etwa „Planescape: Torment“ nicht nur als Rollenspiel gewürdigt, sondern als philosophische Auseinandersetzung mit Fragen nach Identität und Erinnerung. Und „Die Siedler“, lange Zeit vor allem für seinen „Wuselfaktor“ bekannt, erscheint hier als Modell einer idealisierten Ökonomie, in der Arbeit konfliktfrei und immer sinnvoll ist – eine Art kapitalistische Utopie ohne Armut oder Widerstand.
Der Band reiht sich damit ein in eine wachsende kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Games. Museen wie das MoMA in New York oder das Deutsche Literaturarchiv Marbach sammeln Spiele, in Ausstellungen werden ihre ästhetischen, historischen oder politischen Aspekte diskutiert. Und schon 2007 veröffentlichte die Library of Congress eine Liste besonders erhaltenswerter Titel – darunter „Civilization“, „Sim City“ und auch das heute fast vergessene „Sensible Soccer“.
Kanonisierung in einem fragmentierten Medium
Einen allgemeinen Kanon, der über akademische Listen und Museumsvitrinen hinaus Bestand hätte, gibt es bislang dennoch nicht. Vielleicht, weil das Medium dafür zu jung ist. Vielleicht aber auch, weil es sich dem Gedanken eines endgültigen Kanons grundsätzlich entzieht. Gerade deshalb ist der Versuch, den Feige und Inderst mit ihrem Buch unternehmen, so interessant. Sie liefern keinen abschließenden Katalog, sondern ein Angebot zur Auseinandersetzung.
Ein Kanon der Perspektiven – und gerade deshalb ein wertvoller Beitrag zur Diskussion darüber, was Computerspiele sind, was sie leisten können und was man von ihnen lernen kann. Auch wenn Civilization fehlt.