„Ferien, das ist die Auszeit, Anti-Arbeit, die große Belohnung. Da darf man nichts dem Zufall überlassen. Ferien heißt deswegen: Kontrolle, in der ersten Person Singular. ‚Diesmal mache ich alles richtig'“, schreibt der Historiker und Kulturwissenschaftler Valentin Groebner in seinem Essay „Abgefahren“. Den er nicht nur an die anderen, sondern durchaus auch an sich richtet, „weil ich diese Art von ängstlicher Entschlossenheit an mir ja regelmäßig feststelle: Den Sommer nicht verschlampen!“
Wenn es um den Urlaub geht, verstehen wir keinen Spaß. Und ehe wir zu Hause bleiben, schreibt und sagt Valentin Groebner, da stehen wir lieber bei 34 Grad im Stau, warten stundenlang in der Eiffelturm-Schlange oder belegen Liegestühle mit Handtüchern, bevor noch der Tag anbricht. Warum ist das so? „Weil Reisen zum Vergnügen eine Art von Über-Leben ist. So wie Über-Ich einfach mehr Ich ist als das normale Ich.“
Und das bedeutet: „Reisen spielt für die Aufrechterhaltung des eigenen Selbstbilds im wohlhabenden Mitteleuropa eine sehr, sehr große Rolle. Wer ich bin, zeige ich dadurch vor, wo ich hinfahre und wie ich es tue und was ich dort intensiv genieße“, sagt Groebner, der Historiker mit dem Fachgebiet Mittelalter und Renaissance. In seinen Büchern erweist er sich doch immer wieder als kluger Beobachter unserer Gegenwart.
Die stete Sorge, etwas zu verpassen
In seinem Essay „Abgefahren“ lässt sich als Leitmotiv die Angst ausmachen, die stete Sorge, das Beste eben nicht zu erleben, sondern zu verpassen. „Wir haben von den Romantikern die Vorstellung geerbt, dass Reisen das einsame Erlebnis, der Gipfel der Intensität ist, der Vervollkommnung, auch der Selbstbeglückung. Und jetzt kommen viele zehntausende, hunderttausende oder Millionen Menschen und sagen: ich möchte diesen einzigartigen Moment am Mont St. Michel oder vor dem Eiffelturm oder vor dem Pantheon in Rom bitte jetzt haben. Und sie sind alle gleichzeitig da.“
Kaum etwas, schreibt Groebner, wird so intensiv zur Werbung für Besucher eingesetzt wie die angebliche Abwesenheit anderer Besucher. Und kaum etwas, ließe sich hinzufügen, ist so offensichtlich gelogen. Weiß ja auch jeder. Folgen hat das trotzdem nicht. Überhaupt, die Konsequenzen: Wenn Gegenwartsarzt Groebner recht hat mit seinen Diagnosen, und alles spricht dafür – was folgt dann daraus für die Therapie? Eine Steuer auf Flugbenzin vielleicht? Ein noch entschiedenerer Kampf gegen Airbnb? Oder auch nur eine eingehende Untersuchung, warum wir den Urlaub meist „wohlverdient“ nennen, gerade so, als spräche das schlechte Gewissen aus uns und müsse beschwichtigt werden?
„Abgefahren“ ist ein augenöffnender Aufsatz
„Ich möchte aber niemandem den Urlaub madig machen“, versichert Groebner, der ein freundlicher Mann ist – und dessen Buch auch deswegen angenehm zu lesen ist, weil er eben nicht behauptet, Antworten zu wissen, sondern weil er lieber die Fragen aufschreibt, die sich ihm stellen: auf dem Rennrad, auf überfüllten Alpenpässen, auf Sri Lanka, unter meckernden Mitreisenden. „Ich bin selbst in meinem eigenen Urlaubsverhalten alles andere als konsequent. Und ich habe versucht, in dem Buch mich selbst als ratloser, verschwitzter Tourist auch immer wieder neu ins Bild zu rücken, damit die Leserinnen und die Leser eine Vorstellung davon kriegen, aus welcher Perspektive das geschrieben ist.“
Und so ist Valentin Groebners „Abgefahren“ ein augenöffnender Aufsatz, weil er die schönste Zeit des Jahres auf ihre schlechten Gefühle hin prüft. Die Ratlosigkeit der Reisenden. Die Unruhe der Urlauber. Und immer wieder die allgegenwärtige Angst – etwa im Werbespruch eines Reisebüros: „Weil niemand fragt, wie es auf Balkonien war. Da wird immer schon vorausgesetzt, dass man Urlaub macht, um anderen davon zu erzählen. Was für ein Stress, meine Güte!“