In „Die Ausweichschule“ erzählt Kaleb Erdmann von einem Autor, der wie er selbst Schüler am Gutenberg-Gymnasium war. Dort, wo ein 19-jähriger Amokläufer 2002 16 Menschen tötete. Und der namenlose Autor hadert jetzt damit, ob er der Richtige ist, diese Erfahrungen nach so vielen Jahren in einen Roman zu bringen. Ob es überhaupt funktioniert, sich das Ganze „von der Seele zu schreiben“ und warum das eigentlich plötzlich so wichtig für ihn ist.
Eine zufällige Begegnung in einer Frankfurter Bar endet für die Hauptfigur von Kaleb Erdmanns neuem Roman mit einem geschwollenen Gesicht und einer Erinnerung, die ihn nicht mehr loslassen will. Ein Jahr reist er ihr auf fast besessene Art hinterher, will unbedingt einen Roman darüber schreiben. Es ist der Amoklauf von Erfurt, dessen Zeuge er als Kind wurde. Also teilweise. Denn was er gesehen hat, kann ihn eigentlich gar nicht so stark traumatisiert haben. Oder?
Wie über eine Untat schreiben?
„Ich habe im Gegensatz zu meinen Mitschülern keinen Mord und kein Blut gesehen“, schreibt der Autor im Buch, er sei nur anderthalb Jahre auf der Ausweichschule gewesen und dann weggezogen. „Ich bin vielleicht nicht der Richtige, um diese Geschichte zu erzählen. Ich schreibe ja nicht nur über mich selbst. Ich rühre einen Topf um, von dem ich nicht weiß, ob ich mich ihm überhaupt nähern sollte, einen völlig fremden Topf, so fühlt es sich an, als würde ich irgendwo durch ein Fenster einsteigen, um einen Topf umzurühren.“
Seine eigenen Erinnerungen sind zum Beispiel Bilder vom Täter, der in seinem Kinderkopf ein bisschen so aussah wie ein Ninja. Bilder vom Blumenmeer bei der Gedenkveranstaltung danach, von Pappschildern, auf denen dieses eine Wort steht: „Warum“. Das taucht im Roman immer wieder auf: Warum ist das damals alles geschehen?
Zugang über zweifelnde Schriftstellerfigur
Aber warum über einen Amoklauf schreiben, der über 20 Jahre her ist? Oft habe er versucht, sagt Kaleb Erdmann, ähnlich wie der Erzähler im Buch, über den Amoklauf zu schreiben. Richtig habe es sich nie angefühlt. „Weil ich entweder das Gefühl hatte, ich schlachte das Thema aus, oder es ist voyeuristisch.“ Erst die Meta-Konstruktion des selbstzweifelnden Schriftstellers habe ihm die Möglichkeit gegeben, die Zweifel in den Text mitzunehmen und selbst zum Thema zu machen.
Kaleb Erdmann lässt diesen Autor, der an seine eigene Person angelehnt ist, nach Antworten auf das „Warum“ suchen. Etwa in den Texten anderer. Im Polizeibericht. In einem fiktiven Theaterstück über die Eltern des Täters. Aber auch in Literatur. Wie in Ines Geipels literarischer Dokumentation „Für heute reicht’s“, die sich bereits 2004 mit dem Amoklauf von Erfurt befasste – übrigens ganz ohne persönliche Betroffenheit. Auch die Bücher des französischen Autors Emmanuel Carrère liest der Protagonist. An solchen Stellen ist „Die Ausweichschule“ auch ein Meta-Roman über das Schreiben über Gewalttaten an sich.
Die ewige Frage: Warum?
„Die Ausweichschule“ macht auch zum Thema, wie hartnäckig sich eine Gewalttat wie ein Amoklauf in eine Stadt einprägt. Und wie das Suchen nach Antworten vielleicht nie aufhört. Symbolisch trifft der Protagonist immer wieder auf die Gedenktafel mit den 16 Namen der Ermordeten. Erdmann lässt die Figur Kreise ziehen, Dinge erkennen, aber auch am Verstehen scheitern. Der Text, so Erdmann, lasse Gleichzeitigkeiten und Uneindeutigkeiten zu, wo von einem Sachbuch oder einem journalistischen Text eine viel größere Eindeutigkeit und Geradlinigkeit eingefordert würde.
Kaleb Erdmann ist mit „Die Ausweichschule“ ein Roman gelungen, der schwer und leicht zugleich ist, der keine True-Crime-Effekthascherei braucht, die Tat dokumentarisch-nüchtern erzählt und eher die Gefühlswelt eines jungen Autors erkundet, der noch etwas mit seinem Kind-Ich zu klären hat. Er steht damit auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.