Eine zerklüftete Felslandschaft, auf der ein Gipfelkreuz thront. Hier ist der alte Brandner Kaspar immer gern mit seiner Enkeltochter heraufgekommen. Aber die lebt nicht mehr. Ein wild gewordener Stier auf der Alm hat sie totgetrampelt. Und der Großvater hadert nun mit seinem Herrgott und schimpft ein auf den geschnitzten Heiland am Kruzifix. Doch woher stammt diese Szene?
Szenen dazu erfunden, Komödiantisches weggelassen
Sie findet sich so weder in der ursprünglichen Erzählung „Die G’schicht‘ von‘ Brandner Kasper“ von Franz von Kobell noch in der populären Bühnenadaption von 1975 von dessen Ururgroßneffen Kurt Wilhelm am Münchner Residenztheater.
Sie stammt vom Autor Franz Xaver Kroetz, der in den 70er Jahren der meistgespielte deutsche Theaterautor war und der heute im BR-Interview über das damalige Theaterstück sagt: „Das war so reaktionär: es bleibt alles so wie es ist. Denen, denen es gut geht, geht’s auch im Himmel gut und die anderen sind mir auch im Himmel wurscht und so weiter. Also ich fand das aus der schlimmsten Ecke des Volkstheaters.“
Jetzt hat der gebürtige Münchner selbst eine neue Inszenierung geschrieben, für dasselbe Theater und hat dabei ein paar Szenen dazu erfunden, dafür eine Menge komödiantisches Beiwerk, mit dem vor allem Kurt Wilhelm die Kernfabel ausgeschmückt hat, weggelassen. Dabei wurde der Stoff aber nicht dekonstruiert. Sondern, wie es der Regisseur Philipp Stölzl sagt, wird die Geschichte so ernstgenommen als das, was sie ist.
Angemessene Figuren
Der Boandlkramer, also der personifizierte Tod, mit dem es der Brandner zu tun bekommt, ist in der neuen Inszenierung von Stölzl kein hohläugiger, hagerer Knochenmann, keine Mischung aus Catweazle und Vogelscheuche im zerschlissenen Frack, zerbeulten Zylinder und strähnigem Haar, wie er in anderen Brandner-Kaspar-Aufführungen oft auftritt. Florian von Manteuffel, der ihn hier spielt, schaut im zu weit geschnittenen schwarzen Anzug eher aus wie eine Kreuzung aus halbseidenem Bestatter und Auftragskiller, der einem Aki-Kaurismäki-Film entlaufen sein könnte.
Dem Ernst des Themas angemessen sei das, wie Günther Maria Halmer findet. Als junger Mann feierte Halmer seinen Durchbruch als Tscharlie in Helmut Dietls früher Serie „Münchner Geschichten“. Und spielt jetzt am Residenztheater in der neuen Kroetz-Fassung den Brandner Kaspar. Der 82-Jährige sagt, dass der Tod bei ihm immanent sei, seien viele seiner Kollegen schon tot: „Und wenn man zum Arzt geht und der macht ein bedenkliches Gesicht bei irgendwas, dann hat man Angst, dass es einen erwischt hat. Das ist ein permanentes Thema.“
Menschliche Urangst
Was diese menschliche Urangst vor dem Tod angeht, so triff der Brandner-Kaspar-Stoff ganz offensichtlich einen Nerv. Dass der Tod menschlich auftritt, um nicht zu sagen: allzu menschliche Bedürfnisse hat, und einem innerlich wärmenden Schnaps nicht abgeneigt ist, den ihm der Brandner in mehreren Stamperl hinstellt, bis der Boandlkramer leicht beim Kartenspielen übers Ohr zu hauen ist – was für eine wunderbare Vorstellung! Dass man dem Tod mit List von der Schippe springen könnte, wenn er dereinst anklopft, und er dann der Gelackmeierte ist, auf dessen Kosten man sich prächtig amüsiert – herrlich! Und so hat der Stoff über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder neue Häutungen erfahren.
Der Brandner als Dauerbrenner
Eduard Stemplinger zum Beispiel hat unter dem Titel „Der Tegernseer im Himmel“ Anfang der 1960er Jahre ein sentimental-verschunkeltes Singspiel geschaffen, bereits 1934 schrieb Josef Maria Lutz sein eher düsteres Volksstück „Der Branderkaspar schaut ins Paradies“ und 1949 entstand der Schwarzweißfilm „Das Tor zum Paradies“ mit Carl Wery als Brandner und Paul Hörbiger als Boandlkramer. Oder der Comic des Tegernseer Illustrators Jan Reiser, der unter dem Titel „The Story of Brandner Kaspar“ neben der bayerischen Originalausgabe auch in einer englischsprachigen Übersetzung vorliegt. Und nicht zu vergessen: Josef Vilsmaiers letzter Film „Der Boandlkramer und die ewige Liebe“ von 2021. In dem Bully Herbig den Boandlkramer spielt und die Titelrolle mit niemand geringerem als Franz Xaver Kroetz besetzt wurde. Kroetz also, der jetzt der Autor der neuesten Version des Stoffes ist, die am kommenden Samstag am Münchner Residenztheater uraufgeführt wird.