Der Heilige Geist ist weiblich. Sie heißt Rosalía und ist nicht von dieser Welt. Oder doch? „Quién pudiera vivir entre los dos?“ singt Rosalía zu Anfang ihrer neuen Platte „LUX“, Latein für „Licht“. „Wie schön wäre es zwischen beiden Welten zu leben? Von dieser Erde zu kommen, in den Himmel zu gehen und dann wieder auf die Erde zurückzukehren?“ Dazu suggerieren glitzernd-melancholische Klaviertöne: Hier steigt gerade eine Präsenz herab, die uns gleich mit einer der progressivsten Pop-Erfahrungen des Jahrzehnts segnen wird.
„LUX“ ist Rosalías viertes Studioalbum. Und erneut schafft die Katalanin es, mit ihrem Werk ein komplett neues Kapitel aufzuschlagen. Während „El Mal Querer“ stark von Flamenco und dem andalusischen Gitano inspiriert war und „Motomami“ eher von der Klangwelt der karibischen Inseln und lateinamerikanischen Musikstilen, ist „LUX“ nur schwer zu fassen. Und doch eine logische Folge von Rosalías bisherigem Opus.
Musik, die uns etwas fühlen lässt
Im Interview mit Zane Lowe auf Apple Music erklärt die Künstlerin, dass sie im Gegensatz zum Vorgänger „Motomami“ bei diesem Album die musikalischen und inhaltlichen Ideen während der Entstehung wirklich zu Ende denken wollte: „Ich mache Musik, damit Leute etwas fühlen können. Und vielleicht fühlen sie am meisten, wenn ich den vollen Weg gehe. Vielleicht erlaubte ich mir das nicht. Vielleicht schrieb ich Songs, aber vollendete den Gedanken nicht. Fürs nächste Album hatte ich mir also vorgenommen, zumindest zu versuchen, den Gedanken zu vollenden, den Song zu vollenden. Bis ganz zum Schluss.“
Thematisch setzt die Künstlerin mit „LUX“ auf eine Auseinandersetzung mit der Transzendenz. Rosalía verknüpft religiöse Symbolik mit den realen Erfahrungen einer Frau in der Welt und in der Liebe. Doch statt das eigene Innere übermäßig in den Fokus zu stellen, geht es an vielen Stellen auch um die Außenwelt und um den eigenen Platz darin. Im Interview mit dem Popcast der New York Times erzählt die Künstlerin, dass sie sich im Zuge des Entstehungsprozesses von „LUX“ viel mit weiblichen Biografien der Geschichte beschäftigt hat. Mit der Universalgelehrten Hildegard von Bingen oder der Revolutionärin Johanna von Orleans, letzterer widmet sie sogar einen eigenen Song auf der Platte: Jeanne.
Ein Album wie eine Oper
„LUX“ ist eine orchestrierte Wucht, kommt wie eine Messe daher. Rosalía, die Predigerin, die Musik der Zukunft, der Inhalt. Wie eine Oper oder eine Filmscore ist das Album komplett durcharrangiert und -produziert. Die Songs folgen keinen pop-klassischen Songstrukturen, scheinen mehr Emotionen nachzugehen und dem großen Ganzen zu dienen. Sie denkt Pop noch weiter als Freddie Mercury auf „Bohemain Rhapsody“, als Björk auf „Vespertine“, oder Kanye West auf „YEEZUS“. Sie durchschreitet Grenzen in jeder Hinsicht: zwischen Genres, Rhythmen, Kulturkreisen, zwischen weltlichen und spirituellen Welten.
Neben der Oper gibt es Einflüsse aus dem Flamenco, aus der Pop-Avantgarde, aber auch vom mexikanischen Sierreño oder dem portugiesischen Fado. Rosalía sagt, es war ihr wichtig, dass alles von echten Menschen live spielbar, also auch live erfahrbar ist. Spannend. So raubt einem beim Hören bereits der Gedanke an eine Aufführung dieses Werkes den Atem. Wo und wie wird das nur stattfinden? In einem Stadion? Einem Opernhaus? Auf einem Ufo, schwebend über dem Ozean?
„Ich bin Nichts, ich bin das Licht der Welt“, singt Rosalía im Song „Porcelana“ auf Latein. Ein weiterer Wink zum Heiligen Geist. In der christlichen Pfingst-Erzählung bringt dieser trotz Sprachbarriere alle dazu, sich zu verstehen. Auf „LUX“ singt Rosalía in 13 Sprachen, darunter auch Deutsch („Berghain“) und switcht mühelos hin und her: „Ich will keine Rache, die Rache will mich“ singt sie zum Beispiel auf Ukrainisch, „Ich bin geboren, um ein Rebellin zu sein“ auf Hebräisch, oder „Ich würde den Himmel für dich auseinanderreißen und die Hölle zerstören“ auf Arabisch. Worte, die auch politisch aufgeladen sein könnten. Doch Rosalía bleibt vage, oder eher: den Dingen erhaben.
Zwischen Himmel, Erde und Weiblichkeit
Singt Rosalía über die Erfahrung einer gottesfürchtigen Frau, wie sie es auf ihrem Albumcover andeutet? Setzt sie sich kritisch mit religiöser Symbolik auseinander? Oder geht es einfach nur um die Suche nach Liebe und Erfüllung, um die Erfahrung einer Frau in der Weltlichkeit, bei der man irgendwann keine andere Wahl mehr hat als sich an etwas Höheres zu wenden?
Die Antwort ist wohl: alles auf einmal. „Ich wollte mit diesem Album Gott näherkommen“, erzählt sie erneut im Times-Interview. Und so steigt die Künstlerin am Ende zurück auf in den Himmel, aus dem sie zu Beginn der Platte kam. Im Song „Magnolias“ – die Blumen stehen für Reinheit, Schönheit, Weiblichkeit und Anmut steht – singt sie: „Ich komme von den Sternen, und heute verwandle ich mich in Staub um zu ihnen zurück“. Zum Heulen schön.

