Ein Sound, wie man ihn aus der Neoklassik kennt
Würde man das ohne Ton kucken, könnte man meinen, Olafsson mache Neoklassik, also diese Musik, bei der Menschen, mit entrückten Minen, generische Akkordfolgen in asthmatische Klaviere kneten.
Kuckt man das mit Ton … dann erinnert das immer noch ein bisschen an Neoklassik. Da ist viel Äther im Sound. Und die Klaviermechanik klappert so aufdringlich, als hätte Olafsson bei Manufactum „gesigned“ und nicht bei der altehrwürdigen Deutschen Grammophon. Aber eines man muss ihm lassen: Man kommt schwer weg davon.
Allein sein „Ave Maria“ wurde über 30 Millionen mal geklickt. Vor kurzem hat Olafsson außerdem verkündet, dass er auf Spotify die Marke von einer Milliarde Streams geknackt habe. Das ist viel. Für einen klassischen Pianisten ist das sogar absurd viel. Wie also macht er das?
Nun, womöglich er hat das richtige Vorbild.
Olafssons Ziel: Gould neidisch machen
Vor kurzem war Olafsson im Podcast von Rick Rubin zu Gast. Rubin ist eine Produzentenlegende, fing an mit Hip-Hop (Public Enemy) und produzierte später alles von Mick Jagger über Johnny Cash bis zu Jay-Z, Lady Gaga oder Kae Tempest. Klassik ist nicht dabei. Umso sprechender, dass jetzt ausgerechnet Olafsson bei ihm sitzt.
Das Producing ist dem Isländer nämlich so wichtig, wie wohl keinem anderen Vertreter seines Genres. Er habe von Gould gelernt, sagt er im Podcast. „Wenn ich ein Ziel habe, dann, dass sich Glenn Gould vor Neid im Grab umdreht!“ Er, Olafsson, habe immerhin ganz andere Möglichkeiten im Studio, als der Kollege zu seiner Zeit.
Aber was entscheidend ist: im Vergleich zu den meisten anderen seiner Kolleginnen, nutzt er sie auch. Man könnte sagen, dass Olafsson nach Gould der zweite echte Recording Artist der Klassik.
In der Klassik gilt immer noch das Konzertsaal-Paradigma
Es ist schon irre. Aufnahmen gibt es seit über hundert Jahren. Trotzdem klebt diese an Konservatismen nicht arme Nischenkultur immer noch an der Idee, dass der Konzertsaal das Nonplusultra ist. Die ideale Hörsituation. Klassikalben klingen deshalb oft so, als säße man in Reihe 47. Alles ein bisschen sehr weit weg. Viel Raum, wenig Punch. Spätestens wenn die U-Bahn anfährt, ist da nicht mehr viel übrig vom Chopin Nocturne
Olafsson hören ist dagegen wie Hip-Hop: Extrem nah – und kristallklar. Ein Sound, der mit einer anderen Hörsituation kalkuliert. Und der sich in einer Millisekunde behauptet. Ideal für die Aufmerksamkeitsökonomie auf Spotify. Da muss man nicht bis zur ach so delikat gestalteten Durchführung in Takt 172 warten. Da reicht der erste Ton.
Von einem neuen goldenen Zeitalter der klassischen Musik hat Olafsson vor kurzem gesprochen. Das mag angesichts dieser immer noch massiv vergangenheitsfixierten Kunstform etwas übertrieben sein. Doch eines zeigt sein Erfolg auf jeden Fall: Wie viel Menschen man mit dieser Musik erreichen kann, wie sehr sie leuchten kann, wenn man endlich mal den Konzertsaal vergisst.
Das ist vielleicht keine Revolution, aber doch eine längst überfällige Emanzipation. Und Olafsson mit seinem superfeinen Anschlag ihr charmantester Protagonist.