Schadet auf keinen Fall, vor dem Besuch dieses Musicals den Blutzuckerwert überprüfen zu lassen: Es ist ungefähr so süß wie eine Handvoll kandidierte Kirschen und weil es gut drei Stunden dauert, hat der Körper schon zu tun. Aber der sagenhafte Kitsch ist ja gerade das Erfolgsrezept von „Pretty Woman“, dieser modernen Aschenputtel-Variante. Klar, das Volksmärchen der Brüder Grimm ist kindgerechter, Rossinis „Cenerentola“ witziger, Verdis „Traviata“ anspruchsvoller und „My Fair Lady“ deutlich satirischer, aber der Hollywoodfilm von 1990 bediente sich halt bei all diesen Vorläufern, reicherte die Geschichte mit einer Prise schaler Kapitalismuskritik an und bestärkte das Publikum in der Erwartung, dass Tränen im Luxushotel immer dekorativer sind als am Straßenrand.
Herzrhythmusstörungen nicht zu befürchten
Das reichte damals für den größten Kino-Filmerfolg des Jahres und 18 Millionen Zuschauer bei der TV-Erstsendung. Bemerkenswert, dass das Musical trotzdem erst 2018 in Chicago uraufgeführt wurde. Am Broadway war es leidlich erfolgreich, in Hamburg und in London fiel es der Corona-Pandemie zum Opfer. Seit Ende Oktober ist „Pretty Woman“ auf Tournee, nach dem Start in Oberhausen ist das Deutsche Theater München die zweite Station, bis Mitte Januar 2026 folgen Auftritte in Frankfurt/Main und Baden-Baden.
Egal wie man zu dieser Art Musical-Schmonzette steht, sie erfüllt alle Erwartungen der Fans, und zwar überreichlich: Die Songs von Bryan Adams und Jim Vallance sind allesamt eingängig und gefühlig, die Melodien samtig-weich, die Handlung so vorhersehbar, dass Herzrhythmusstörungen nicht zu befürchten sind. Der folgerichtige Programmheft-Kommentar von Bryan Adams zum Film: „Er war süß.“ Da wollte der Komponist natürlich auch nicht an Kalorien sparen. Klar, „Pretty Woman“ könnte etwas mehr Witz haben, auch gesellschaftskritischer sein, aber die Urfassung von „Aschenputtel“ interessiert ja auch weniger die Soziologen als die Psychoanalytiker.
„Läden sind nett zu Kreditkarten“
Immerhin, ein Satz, der aus dem Film bekannt ist und sich auch im Musical findet, bleibt hängen: „Läden sind nicht nett zu Menschen, Läden sind nett zu Kreditkarten.“ Damit muss eine angehende Prinzessin erst mal klarkommen, und wie sie das schafft, wird augenfällig vorgeführt. Eines hat „Pretty Woman“ dem romantischen Volksmärchen vom Aschenputtel auf jeden Fall voraus: Bei den Brüdern Grimm bleiben sich alle Beteiligten von Anfang bis Ende charakterlich treu, sind also durchweg gut oder böse, damit die Kinder nicht den Überblick verlieren. Im Musical dürfen sie sich bessern, aber wie realistisch es ist, dass sie dafür gleich 500 Millionen Dollar in den Wind schreiben, muss jeder selbst entscheiden.
Unterhaltung, die ihr Geld wert ist
Die niederländische Regisseurin Carline Brouwer und ihre Choreographin Eline Vroon lassen ihre Show hochprofessionell abschnurren, da gibt es wirklich nichts zu mäkeln. Das ist kommerzielle Musical-Unterhaltung, die ihr Geld wert ist. Die Niederländerin Shanna Slaap übernahm die Hauptrolle der Vivian Ward, die von Milliardär Edward Lewis, gespielt von Mathias Edenborn, aus der Gosse geholt und zur Prinzessin gemacht wird. Es ist Geschmackssache, nicht deutsche Darsteller mit derart textlastigen Rollen zu betrauen: Das kann für sie wie für das Publikum etwas angestrengt wirken, sängerisch freilich machten beide ihre Sache sehr gut.
Wie der höchst erfolgreiche Vorverkauf bestätigt, liebt das Münchner Publikum bekannte Stoffe. Vielleicht ist das auch ein Ausdruck unserer unsicher gewordenen Zeit: Auf der Bühne wollen viele, wenn nicht sogar die meisten, nicht überrascht, sondern zerstreut werden, und zwar ohne unnötige Aufregungen. In „Pretty Woman“ wird Vivian Ward von ihrem reichen Gönner ja erst zu einem Polo-Spiel und dann in die Oper geschleppt: Weder das eine, noch das andere ist ihr so ganz geheuer – zu viele Snobs, zu unbequeme Logen – und schon dafür dürften ihr die Herzen des Musicalpublikums zufliegen. Aschenputtel läuft halt gern barfuß, aber nur, wenn der Hoteldirektor die Scherben beiseiteschafft und die Limousine bereitsteht.
Bis zum 14. Dezember 2025 am Deutschen Theater München.

