In einem sind sich so gut wie alle Fachleute einig: Die Bundesregierung will zwar mehr Steuerung im Gesundheitswesen einführen – die wird aber nicht vor 2027 kommen. Denn das Gesetzgebungsverfahren hat noch gar nicht begonnen. Eins aber ist sicher: Union und SPD haben sich fest vorgenommen, „ein verbindliches Primärarztsystem“ einzuführen, so steht es im Koalitionsvertrag.
Grundsätzliche Hausarzt-Pflicht sehr unwahrscheinlich
Damit sei mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gemeint, dass Patientinnen und Patienten künftig grundsätzlich immer erst in eine Hausarztpraxis gehen müssen, erwartet Wolfgang Ritter, der Vorsitzende des Bayerischen Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes (BHÄV). Dazu hätten sich die Patienten in Deutschland zu sehr an eine weitgehend freie Arztwahl gewöhnt.
Hausärzte setzen auf eigene Verträge
Der BHÄV-Vorsitzende hofft vielmehr darauf, dass das Modell der „Hausarztzentrierten Versorgung“ (HzV) Grundlage eines künftigen Primärarztsystems wird. Die HzV sieht vor, dass Patienten sich freiwillig immer für ein Jahr in einer bestimmten Hausarztpraxis einschreiben. Sie soll die Versorgung der Patienten zentral steuern und sich beispielsweise um möglichst schnelle Facharzttermine kümmern.
Viele Arztkontakte
In Deutschland gehen Patienten bereits heute vergleichsweise häufig zum Arzt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zählt pro Jahr im Schnitt knapp zehn Arztkontakte. Das ist OECD-weit Platz vier, der Schnitt innerhalb der 32 OECD-Staaten liegt bei sechs Arztkontakten (externer Link). Einen Grund dafür sehen viele Fachleute darin, dass es in Deutschland vergleichsweise wenig Patientensteuerung gebe.
Wichtigere Rolle für 116 117
Wenn ein Primärarztsystem für mehr Steuerung sorgen soll, wird nach Einschätzung von Bayerns Hausärztechef Ritter zum einen die hausarztzentrierte Versorgung wichtiger. Daneben würden aber auch die Terminservicestellen eine wichtigere Rolle spielen, die online und über die Telefonnummer 116 117 erreichbar sind.
Ritter nennt als Beispiel einen Patienten mit Ohrenschmerzen. Der könne nach Einführung eines Primärarztsystems Kontakt mit seiner Hausarztpraxis aufnehmen. Oder er ruft bei der 116 117 an. Dort nimmt geschultes Personal eine Ersteinschätzung vor: „Wenn die Symptome schwerwiegend sind, kann der Patient dann direkt zum HNO-Arzt, weil ein Spezialist notwendig ist.“
Bei weniger schweren Symptomen werde die Ersteinschätzung die Patienten an eine Hausarztpraxis empfehlen, erwartet Ritter. Denkbar sei aber auch, dass Patienten mit leichten Symptomen empfohlen wird, sich zu schonen und auf Hausmittel zu setzen, ohne dass sie zum Arzt gehen.
Kontroverse um Vorschlag des Kassenärzte-Chefs
Mit einem eigenen Vorschlag hatte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, kürzlich für Diskussionen gesorgt. Wenn ein Primärarztsystem eingeführt wird, wünscht er sich: Patienten sollen gegen einen höheren Kassenbeitrag die Möglichkeit behalten, frei zu allen Facharztpraxen ihrer Wahl zu gehen.
Hausärztechef Ritter kündigt Widerstand gegen solche Pläne an. Denn die Kernfrage sei: „Wie kommt der Patient ins Zentrum der Versorgung und was ist das Beste für ihn?“ Und das sei „eben nicht, dass der Patient drei Kardiologen hat und fünf Nephrologen und zehn Kernspins bekommt“.
Der BHÄV-Vorsitzende könnte sich aber vorstellen, die primärärztliche Versorgung finanziell zu fördern: Patienten, die sich fest bei Hausarztpraxen einschreiben, könnten durch einen Bonus beim Kassenbeitrag belohnt werden.
Eigene Pläne der Kassen
Nicht nur verschiedene Ärzteverbände fordern ein mögliches Primärarztsystem. Auch Krankenkassen machen Vorschläge: Der Verband der Ersatzkassen (VDEK), in dem unter anderem TK, Barmer und DAK zusammengeschlossen sind, hat das Konzept eines „persönlichen Ärzteteams“ entwickelt. Dabei würden sich Patienten an eine Hausarztpraxis und drei Facharztpraxen binden.
Widerstand aus Berufsverbänden
Es gibt aber auch entschiedenen Widerstand gegen ein Primärarztsystem. Der Vorsitzende des Bayerischen Facharztverbands (BFAV), Wolfgang Bärtl, ist überzeugt, eine stärkere Patientensteuerung durch Hausarztpraxen funktioniere „weder kurz- noch mittelfristig mangels Personal“. Entsprechende Pläne würden „einen gesundheitsgefährdenden Flaschenhals durch Behandlungsstau schaffen“.
Bayerns Ärztepräsident: Chance nutzen
Der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Gerald Quitterer, sieht die Diskussionen über ein Primärarztsystem mit Sorge. Ein entsprechender Umbau des Gesundheitssystems biete viele Chancen für Patienten und Ärzte, ist Quitterer überzeugt. Die jetzige Diskussion, bevor überhaupt konkrete Gesetzespläne vorliegen, könne aber dafür sorgen, „dass alles zerredet wird“.