Mehr als 20 Jahre lang wurden Menschen mit Pflegebedarf je nach Schwere ihrer Probleme in drei Pflegestufen eingeteilt. Seit 2017 ist die Einteilung feingliedriger: Es gibt seitdem fünf Pflegegrade. Im Pflegegrad 1 können unter anderem auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen Leistungen erhalten, also etwa bei einer beginnenden Demenz.
Pflegegrad 1 galt lange als Errungenschaft
Seit der Reform können Pflegebedürftige etwa leichter Beratungsleistungen in Anspruch nehmen, aber auch finanzielle Unterstützung der Pflegekassen bekommen. Mit dem sogenannten „Entlastungsbetrag“ in Höhe von derzeit 131 Euro monatlich sollen Pflegebedürftige etwa Unterstützungsleistungen im Haushalt bezahlen können.
Diese Erweiterung galt als sozialpolitischer Fortschritt. Die Hoffnung war, dass bei einer frühzeitigen Unterstützung die Pflegebedürftigkeit langsamer voranschreitet. In Bayern sind nach Angaben des Statistischen Landesamtes rund 103.000 Menschen in Pflegegrad 1 eingestuft, bundesweit sind es rund 863.000. Die meisten Menschen sind in die Pflegegrade 2 und 3 eingestuft.
Kritik von Arbeitgeberverbänden
In den vergangenen Monaten gab es immer lauter werdende Zweifel, ob die Leistungen des Pflegegrads 1 ihr Ziel erreichen. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) argumentiert in einem Papier vom Juli, der Entlastungsbetrag im Pflegegrad 1 decke „ein kleines Risiko“ ab, „das von den Pflegebedürftigen regelmäßig aus eigenen Mitteln abgedeckt werden kann“.
Wenn der Entlastungsbetrag gestrichen würde, bekäme die Pflegeversicherung zusätzlichen finanziellen Spielraum in Milliardenhöhe, argumentieren die Arbeitgeberverbände.
Sozialökonom: Abschaffung wäre falsches Signal
Die mögliche Abschaffung des Pflegegrads 1 stößt beim Sozialökonomen Heinz Rothgang von der Universität Bremen dennoch auf deutliche Kritik. „Eine Abschaffung des Pflegegrades 1 kann dazu führen, dass Pflegebedürftigkeit länger verschleppt wird, nicht erkannt wird“, sagte Rothgang im Interview mit BR24 im BR Fernsehen.
Nach Einschätzung des Experten könnte die Streichung der monatlichen Leistung von 131 Euro dazu führen, dass Betroffene später direkt in stationäre Pflege wechselten. Der präventive Gedanke, häusliche Pflege frühzeitig zu unterstützen und zu stabilisieren, würde dadurch in Mitleidenschaft gezogen.
Warnung auch von Sozialverbänden und AOK Bayern
Aus Sozialverbänden kommen lautstarke Warnungen, beim Pflegegrad 1 zu kürzen. Wenn der Entlastungsbetrag wegfiele, würden vielen Senioren Alltagshilfen genommen, die sie dringend bräuchten, um ihren Lebensabend in den eigenen vier Wänden zu verbringen, argumentiert die Vorsitzende des VdK Bayern, Verena Bentele. Sie warnt vor einem „Herbst des Kahlschlags“.
Auch die mit Abstand größte gesetzliche Krankenkasse in Bayern, die AOK, warnt vor einer Streichung des Pflegegrads 1. Statt Pflegebedürftige und ihre Angehörigen „immer wieder mit unausgegorenen Einzelvorschlägen zu verunsichern“, müssten die politisch Verantwortlichen „endlich ihren Job“ machen, sagte ein AOK-Sprecher auf BR-Anfrage. Auf Menschen, die in Pflegegrad 1 eingestuft sind, entfalle lediglich rund ein Prozent aller Ausgaben der Pflegeversicherung, erklärte die AOK.
Gemischte Reaktionen aus der Politik
Bayerns Gesundheits- und Pflegeministerin Judith Gerlach (CSU) will in der aktuellen Debatte noch nicht Stellung beziehen. Sie verweist darauf, dass seit Mitte Juli eine Bund-Länder-Kommission tagt, die bis Ende des Jahres Eckpunkte für eine Pflegereform vorlegen soll. Dem Ergebnis dieser Beratung könne und sollte nicht vorgegriffen werden, erklärt Gerlach.
Der Chef der SPD-Fraktion im Bundestag, Matthias Miersch, hingegen hat eine Streichung des Pflegegrads 1 ausgeschlossen. In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“, sagte er, die entsprechenden Leistungen seien eingeführt worden, damit auch an Demenz Erkrankte schneller Leistungen erhalten als früher. Diese Menschen dürfe man nicht „im Regen stehen lassen“, erklärte der SPD-Politiker. Deshalb sei die aktuelle Diskussion „Gift“, so Miersch.