Die Glut-Lawine des Vesuv hat vor rund 2.000 Jahren hunderte Papyrus-Rollen verkohlt und miteinander verklebt. Sie lagerten in einer Bibliothek in dem Ort Herculaneum, am heutigen Golf von Neapel. Heute sehen die Schriftrollen teils aus wie verbrannte Äste oder Kohle-Briketts.
Doch der KI-Experte Vincent Christlein von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ist sich sicher, dass er Texte aus der antiken Sammlung lesbar machen kann. Er ist Mitglied eines neuen internationalen Forschungsprojekts, das die zerstört geglaubten Papyrus-Rollen in den kommenden sechs Jahren rekonstruieren möchte (externer Link).
Virtuelles Entrollen bei der „Vesuvius-Challenge“
In diesem Jahr wurden schon einzelne Überschriften aus dem Inneren einer zusammengerollten Papyrus-Rolle entziffert. Sie wurden sozusagen „virtuell entrollt“. Daran beteiligt waren unter anderem die Würzburger Studenten Marcel Roth und Micha Nowak im Rahmen der „Vesuvius-Challenge“. Sie konnten KI-Modelle so trainieren, dass auf Röntgenbildern schichtweise Buchstaben erkennbar wurden.
Auf diese Weise wurde der Titel einer der Schriftrollen entziffert: „Philodemus – Über die Tugend“. Dabei ist die Schrift selbst unter der Lupe nicht zu erkennen. Denn damals wurde mit Tinte aus Asche geschrieben, und die ist kaum von den verkohlten Papyri zu unterscheiden.
Ein lang gehegter Traum der Papyrologie
„Das virtuelle Aufrollen ist ein Traum der klassischen Philologie und Papyrologie, den wir seit 20 Jahren geträumt haben“, meint der Papyrologe Kilian Fleischer von der Universität Tübingen. Mit dem neuen Forschungsprojekt könnte dieser Traum nun in Erfüllung gehen. „Im Grunde geht es um Wiederentdeckung verloren geglaubten antiken Wissens und Schriften in einem unglaublich großen Umfang.“ Der Papyrologe rechnet mit Werken von bedeutenden antiken Schriftstellern wie Seneca, Cicero, Cäsar, weiteren Schriften von Epikur und seinen Schülern sowie bislang unentdeckten Werken von stoischen Philosophen.
Hoffnung auf eine „zweite Renaissance“
Die Bibliothek in Herculaneum gilt als die einzige vollständig erhaltene Bibliothek der Antike mit überwiegend griechischen und lateinischen Texten, die in ihrem ursprünglichen Fundkontext entdeckt wurde. Schon vor 250 Jahren wurden schätzungsweise 800 bis 1.000 Rollen aus Herculaneum ausgegraben, erzählt der Papyrologe Kilian Fleischer. Doch beim händischen Aufrollen wurden viele Schriftstücke zerstört. Nun sind noch rund 600 Rollen übrig, die im Rahmen des Forschungsprojekts analysiert werden sollen. Er schätzt, dass rund 300 von ihnen lesbar werden. „Wir hoffen auf eine zweite Renaissance“, sagt der Papyrologe.
Micro-Computertomograf und Künstliche Intelligenz
Die Forscher um Vincent Christlein planen unter anderem, die verkohlten Rollen mit einem Micro-Computertomografen zu durchleuchten. Das Gerät erstellt ein 3D-Bild, welches dann mithilfe eines KI-Algorithmus analysiert wird. Diesen hat Vincent Christlein zuvor mit Material aus gut erhaltenen Papyrus-Rollen „trainiert“. Die KI soll dann Schrift und Hintergrund möglichst klar unterscheiden können. Ergebnis ist dann ein Bild aus Pixeln, die der Papyrologe im Idealfall als Schrift entziffern kann. Und je nachdem, welche neuen Werke entdeckt werden, auch wir alle.