Ein Beleg für eine angebliche Trendwende sei das kurzzeitige Wachstum zwischen 2021 und 2023 ohnehin nicht, sagt Johannes Feldmann im Interview mit dem #Faktenfuchs:
„Zwei, drei oder sogar fünf Jahre sind viel zu wenig, um zu sagen: Das ist jetzt ein langanhaltender Trend.“ Johannes Feldmann
Maß für Trend in Klimaforschung: 20 bis 30 Jahre
So kurze Zeiträume anzuschauen, könne trügerisch sein und zu Fehlinterpretationen führen. Um das zu verdeutlichen, ist in der Grafik des Faktenfuchses eine einfache Trendlinie eingezeichnet.
Feldmann forscht seit mehr als zehn Jahren in der Eisgruppe des PIK. Nur weil sich der Eisverlust in der Antarktis zeitweise verlangsamt bzw. kurzfristig aufgehört habe, heiße dies nicht, dass es in Zukunft so sein werde, sagt er. In der Klimaforschung gelten Zeiträume von 20 bis 30 Jahren als Minimum für belastbare Trends, so Feldmann.
Dass die Autorinnen und Autoren der chinesischen Studie in das Kurvendiagramm neben die abwärts zeigenden Trendkurven von 2002 bis 2021 auch eine aufwärts zeigende Trendkurve für den kurzen Zeitraum von 2021 bis 2023 eingezeichnet haben, kann laut Feldmann von Laien fehlinterpretiert und zur gezielten Desinformation genutzt werden.
„Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für Menschen, die das bewusst nutzen wollen, um Fehlinformationen zu verbreiten.“ Johannes Feldmann
Rosinenpicken als gängige Strategie von Klimafaktenleugnern
Ein Herauspicken bestimmter Daten und kurzer Zeiträume ist eine gängige Strategie von Akteuren, die Klimafakten leugnen oder Folgen des Klimawandel verharmlosen. Johannes Feldmann hat diese Strategie auch schon bezüglich der globalen Mitteltemperatur beobachtet.
„Da gibt es auch immer mal wieder Phasen, wo der Anstieg sich abschwächt und dann heißt es: Die globale Erwärmung ist gestoppt, jetzt gibt es eine Trendwende. Das hat sich aber nie bewahrheitet.“ Johannes Feldmann
Verbreitung von Falschbehauptungen mittels Pseudoexperte
Eine weitere Strategie: die Verbreitung von Falschinformationen durch Pseudoexperten. Mitte Mai publizierte etwa Fritz Vahrenholt auf mehreren einschlägig für die Verbreitung von Falschinformationen bekannten Online-Portalen seinen Blog-Artikel zum Antarktis-Eis. Mehrere Aussagen darin sind dieser Recherche zufolge unbelegt oder irreführend.
Vahrenholt ist promovierter Chemiker und bekannt dafür, immer wieder zentrale und unter Fachleuten unumstrittene Erkenntnisse der Klimawissenschaft in Frage zu stellen. Auch wenn er aufgrund seiner Titel und vieler Veröffentlichungen zu Klimathemen auf den ersten Blick wie ein Experte wirken mag: Viele seiner Texte halten Überprüfungen nicht stand und mehrere Klimawissenschaftler haben sich in der Vergangenheit klar von Vahrenholt und seinen Thesen distanziert.
Klimawissenschaftler distanziert sich von Vahrenholt
Vahrenholt zitiert in seinem Blogartikel zur Antarktis auch Jochem Marotzke, Physiker und Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Auf Nachfrage des #Faktenfuchs teilt Marotzke jedoch mit, dass sein Zitat aus dem Zusammenhang gerissen wurde und distanziert sich von Fritz Vahrenholt:
„Vahrenholt & Co picken sich raus, was ihnen passt, und ignorieren geflissentlich die Ergebnisse seriöser Forschung. […] Alles Humbug.“ Jochem Marotzke
Auf die konkreten Rückfragen des #Faktenfuchs antwortet Vahrenholt nicht und verweist in seiner E-Mail lediglich auf Berichterstattung zur oben genannten chinesischen Studie.
Kurzfristiges Wachstum macht jahrzehntelangen Eisverlust nicht wett
Der Klimaforscher Feldmann hingegen simuliert als Eisschild-Modellierer am PIK mit Satellitendaten und anderen Messdaten den Einfluss der globalen Erwärmung auf Eis und Meeresspiegel. Die Abnahme des Eises verlaufe, wie auch andere Variablen, nie geradlinig, sagt er. Schwankungen und kurzzeitige Umkehrungen wie die zwischen 2021 und 2023 seien ganz normal:
„Es ist ein kurzer Anstieg gewesen, der aber bei weitem nicht die Verluste aus den letzten Jahrzehnten wettgemacht hat. Die langjährige Entwicklung, die wir beobachten, ist ein Masseverlust des antarktischen Eisschildes, der vor allem in der Westantarktis stattfindet.“ Johannes Feldmann
Außergewöhnliche Schneefälle führten zu mehr Eis
Dieser langfristige Trend des Eisverlusts kann zeitweise überlagert werden von außergewöhnlichen Schneefällen. Solche Niederschläge – sowohl besonders niedrige als auch besonders hohe – wirken sich auf den Antarktischen Eisverlust und in der Folge auch auf den Meeresspiegel aus. Das zeigt eine Studie von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der University of Leeds in Großbritannien.
Das bestätigt auch Angelika Humbert, Glaziologin am Alfred-Wegener-Institut (AWI). Sie leitet die dortige Arbeitsgruppe zur Eisschildmodellierung und erforscht die Wechselwirkungen zwischen Eis und Klimasystem.
„Wir haben es mit einem natürlichen System zu tun, das Schwankungen unterliegt und das ist auch gar nichts Ungewöhnliches. Wir haben mal ein Jahr mit viel Schnee, mal ein Jahr mit gar keinem Schnee und sowas gibt es eben über Eisschilden auch.“ Angelika Humbert
Genau diese Ursache für die Zunahme des Antarktis-Eises haben dieselben chinesischen Wissenschaftler in einer anderen Studie selbst untersucht: Demnach lässt sich die Zunahme der Eismasse in der Ostantarktis in den Jahren 2021 und 2022 auf ungewöhnlich hohe Schneefallmengen zurückzuführen.
Solche Schneefälle könnten in den nächsten Jahren häufiger vorkommen, meint Johannes Feldmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung:
„Wir wissen, dass sich diese Schneefall-Ereignisse in den nächsten Jahren, dadurch dass es eine wärmere Atmosphäre gibt, häufen können. Das heißt, es könnte öfter mal dazu kommen, dass mehr Masse darauf landet, aber gleichzeitig, wenn es dann noch wärmer wird, wird es auch mehr schmelzen. Das ist alles ziemlich gut erforscht und das wird in den nächsten Jahren auch weiter erforscht.“ Johannes Feldmann
Auch Angelika Humbert sieht keine Trendwende:
„De facto mag das mal in einem Jahr aufgepuffert sein, weil die Ostantarktis viel Schneefall erfahren hat und das ist auch gut für den Meeresspiegel. Aber langfristig gesehen sehen wir nicht, wie sich eine Trendumkehr in dem Massenverlust der Westantarktis abzeichnen würde.“ Angelika Humbert
Masseverlust in Antarktis beschleunigt sich voraussichtlich
Laut dem aktuellsten Sachstandsbericht des Weltklimarats der Vereinten Nationen (IPCC) aus dem Jahr 2023 und dieser Studie von australischen und chinesischen Forschern gibt es Anzeichen dafür, dass sich der Eisverlust in der Antarktis beschleunigt. Das bestätigt auch Feldmann und erklärt die Beschleunigung:
„Einfach dadurch, dass die Atmosphäre wärmer wird, dass der Ozean wärmer wird und dadurch mehr abschmilzt.“ Johannes Feldmann
- Warum der westantarktische Eisschild mit hoher Wahrscheinlichkeit abrupt und unumkehrbar große Eismassen verlieren könnte, hat der #Faktenfuchs hier erklärt.