Aufwärmen im Sportunterricht des Förderzentrums in Aschau: Die zweite Klasse spielt Fangen. Mitten drin läuft der achtjährige Jonas. Seine Insulinpumpe trägt er bei sich. Lehrerin Beate Morbach schaut auf ihr Handy – dort laufen Jonas‘ Blutzuckerwerte in Echtzeit ein. Sind sie zu niedrig, hat sie immer etwas dabei: „Quetschies“, Riegel, Gummibärchen.
Individuelle Förderung statt Zeitdruck
Für Jonas‘ Mutter Jacqueline Moosleitner ist genau das der Grund, warum ihr Sohn heute auf eine Förderschule geht – und nicht mehr auf die Regelschule. Dort fehlte nach ihrer Erfahrung die Zeit, um sowohl auf Diabetes als auch auf Jonas‘ Lese-Rechtschreib-Schwäche einzugehen.
Sie erinnert sich gut an die Zeit vor dem Wechsel: „Ich hab wirklich gebettelt, weil es in der normalen Grundschule einfach nicht mehr ging“, sagt sie. Seitdem sei vieles leichter geworden: „Jetzt läuft’s. Sein Lesen wird besser – er braucht einfach die Zeit.“ Und: „Dieser brutale Druck, der ist weg.“
50-Millionen-Neubau für 380 Kinder
Genau diese Art von Förderung soll in Zukunft mehr Kindern offenstehen. Im Landkreis Mühldorf reagiert man mit einem großen Schritt: In Aschau am Inn entsteht bis 2028 ein neues sonderpädagogisches Förderzentrum – Kosten rund 50 Millionen Euro. Es ist die größte Bildungsinvestition in der Geschichte des Landkreises.
Geplant sind 25 Klassen mit Platz für etwa 380 Kinder, eine neue Mensa und Ganztagsangebote. Kinder mit Förderbedarf sollen vom Vorschulalter bis hin zum möglichen Berufsabschluss auf einem gemeinsamen Campus betreut werden. Mit dem Neubau werden die bisherigen Förderzentren in Waldkraiburg, Starkheim und der alte Aschauer Standort zusammengeführt. Der Landkreis verspricht sich davon mehr Fachpersonal an einem Ort und kurze Wege zwischen Unterricht, Therapie und Betreuung.
Mehr Zeit, kleinere Klassen – und steigende Nachfrage
Jonas‘ Geschichte steht für viele Familien, die sich eine Schule mit weniger Tempo und mehr individueller Förderung wünschen. Jacqueline Moosleitner hat drei Kinder – alle besuchten eine Förderschule. „In der normalen Grundschule geht es für viele einfach viel zu schnell“, sagt sie. Kleine Klassen und ein langsameres Lerntempo seien für ihre Kinder entscheidend gewesen.
Bayernweit gibt es nach Angaben des Kultusministeriums derzeit 337 Förderzentren mit unterschiedlichen Förderschwerpunkten. Im Schuljahr 2024/2025 werden dort 56.520 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischer Förderung unterrichtet, hinzu kommen rund 11.700 junge Menschen an beruflichen Förderschulen.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist in den vergangenen Jahren gestiegen – besonders in wachsenden Regionen wie München, Nürnberg oder Augsburg. An einzelnen Standorten kam es deshalb zu Wartelisten und Engpässen, vor allem im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Offizielle bayernweite Wartelisten führt das Ministerium zwar nicht, spricht aber von „wachsenden Bedarfen“.
Vorurteile halten sich hartnäckig
Trotz der guten Erfahrungen vieler Familien spürt Moosleitner bis heute Vorurteile gegenüber Förderschulen: „Man hört es schon oft: die ‚dumme Schule‘, die ‚Depperl-Schule‘. Das finde ich nicht gerechtfertigt.“ Am Anfang habe sie deshalb kaum jemandem erzählt, dass ihre Kinder auf eine Förderschule gehen. Die Scham sei groß gewesen. Inzwischen sieht sie das anders: „Für meine Kinder war es genau das Richtige.“ Als Elternbeiratsvorsitzende wirbt sie für ein Umdenken: „Man sollte keine Angst haben, wenn ein Kind zur Förderschule soll – sondern es als Chance sehen.“
Mit dem Neubau in Aschau soll diese Chance künftig mehr Kindern offenstehen – Kindern wie Jonas, die vor allem eines brauchen: mehr Zeit, weniger Druck und eine Schule, die ihren besonderen Bedarf mitdenkt.

