„Thomas Mann ist einfach ein unglaublicher Fall“, findet sein Biograf Tilmann Lahme, ein Literaturwissenschaftler, der wie nur wenige seines Fachs zu schreiben versteht: „Für mich ist er einfach der bedeutendste deutsche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.“ Seine Familie, ihr Leben in diesen „bunten, schrecklichen Zeiten“, all das sorge für das anhaltende Interesse an ihrem Zentralgestirn, der Person des „Zauberers“ – und es gebe auch noch „das ein oder andere Geheimnis um ihn“.
Das offene Geheimnis in Thomas Manns Biografie ist seine lebenslang niedergerungene, mutmaßlich nie ausgelebte Homosexualität. Lieber wählte er eine geordnete bürgerliche Existenz: Ehe, sechs Kinder; badete kalt, aß Reis und machte gymnastische Übungen, um „die Hunde im Souterrain an die Kette zu bringen“, wie Thomas Mann selbst sein mannmännliches Begehren mit einer Metapher Friedrich Nietzsches beschrieb.
Kaltherzigkeit als Schutzpanzer
Tilmann Lahme erzählt auf ebenso packende wie kluge Art davon, wie Thomas Mann mit seiner „Geschlechtlichkeit“ kämpft, wie er sich früh eine Kaltherzigkeit antrainiert und sich als Schutzpanzer wegen dieser offenen Flanke Homosexualität im „Eispalast seiner Existenz“ einrichtet. Seinem ebenfalls schwulen Lübecker Schulfreund Otto Grautoff gegenüber, von dem Lahme erstmals aufschlussreiche Dokumente veröffentlicht (sowie zahlreiche aus Thomas Manns Tagebüchern gestrichene sexuell explizite Passagen) äußerte er in Briefen, er halte Homosexuelle für „dumme Herdentiere“. Gleichzeitig aber erkundigte er sich bei ihm nach dem Fortgang von Otto Grautoffs „Konversionstherapien“ mittels Hypnose.
Lahme zeigt, wie Mann mit seinem Leiden an der eigenen vermeintlichen „Anomalie“, an seinem „schlechten Trieb“ hadert und wie es ihn zum „homophoben Homosexuellen“ macht. Vor allem aber verwandelt er dieses Leiden in Kunst. „Man muss sich ja fragen, was uns das alles angeht, seine sexuelle Identität, ist das nicht voyeuristisch, dass wir darauf blicken? Nein, dieser Blick ist nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig, denn er führt ja direkt in seine Literatur hinein“, so Lahme im Gespräch mit dem BR.
All die unterdrückten Gefühle fänden Eingang in seine Werke. Man müsse sich nur mal Thomas Manns Liebesgeschichten anschauen: „Es geht ja alles immer schief. Sobald sich eine Figur bei ihm verliebt, kann man in gewisser Weise den Bestatter rufen. Umso interessanter ist es, zu schauen, wo das herkommt.“ Das macht der 1974 in Erlangen geborene philologische Detektiv Lahme äußerst gekonnt, indem er Materialien ausgräbt, die alle bisherigen Biografien geflissentlich übersahen. Es ist beachtlich, was alles ignoriert bzw. zensiert wurde von den Herausgebern seiner Werke: „Diesen Thomas soll die Welt nicht kennen.“
Lahme holt Thomas Mann vom Sockel
Erfrischend, wie Lahme die von Thomas Mann erfundene und von seinen bisherigen willfährigen Biografen nachgeplapperte „Legendenerzählung“ des lediglich ein wenig homoerotisch veranlagten Schriftstellers im trockenen Ton sich oft genug selbst entlarven lässt. Lustig, wie Lahme nicht davor zurückschreckt, über den „Doktor Faustus“ z.B. lakonisch zu befinden, dieser überkonstruierte Roman könne „vor Ehrgeiz kaum laufen“ oder über die frühen Erzählungen urteilt, das sei zwar „hochtalentierte“ aber eben auch „zutiefst schlechtgelaunte Literatur“. Auch das Attribut „angestrengt“ fällt häufiger mit Blick auf Manns Werke.
Hier erstarrt niemand in falscher Ehrfurcht vor einem Monument, – und folgt darin durchaus seinem Gegenstand. Denn Thomas Mann selbst hat mit „Lotte in Weimar“ auch keinen kniefälligen Roman über den Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe verfasst. „Thomas Manns Goethe“, so Tilmann Lahme, „erscheint als bedeutender Dichter und als Mensch mit Schwächen, als neurotischer, egoistischer, moderner Künstler, der vom Sockel geholt sich zu echter Größe erhebt.“ Genau das macht Tilmann Lahme mit Thomas Mann – er holt ihn vom Sockel und lässt ihn sich so zu echter Größe erheben.