Wer zum ersten Mal die App des chinesischen Online-Marktplatzes Temu öffnet, fühlt sich schnell an ein Casino erinnert. Bunte Glücksräder versprechen Rabatte, rote Countdown-Timer suggerieren Zeitdruck und blinkende Blitze werben für angebliche Flash-Deals. Was nach chaotischem Design aussieht, ist in Wahrheit ein durchdachtes psychologisches System.
Die Plattform bombardiert Nutzer mit einer schwindelerregenden Auswahl an Billigprodukten – von Hundespielzeug für zwei Euro bis zu Mini-Golfsets für die Toilette. Qualität spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Viele Käufer wissen, dass sie Glücksspiel betreiben: Entweder sie erhalten ein brauchbares Schnäppchen oder Schrott, bei dem sich nicht mal das Zurückschicken lohnt.
Die Psychologie hinter den Billigpreisen
Temu nutzt gezielt die Mechanismen der Verhaltenspsychologie. Retail-Experten vergleichen die Plattform mit Spielautomaten – sie löst kleine Dopamin-Ausschüttungen aus, die Nutzer immer wieder zurückkehren lassen. Die ständigen Aktionen und die chaotische Benutzeroberfläche erwecken den Eindruck, man könne durch schnelles Handeln echte Schnäppchen ergattern.
Besonders perfide: Temu kombiniert verschiedene Überzeugungsstrategien, etwa künstliche Verknappung durch Countdown-Timer oder Belohnungssysteme wie in Videospielen. Nutzer sehen nicht nur Bewertungen und Sterne, sondern auch, wie viele Menschen das Produkt in den letzten 24 Stunden gekauft haben oder gerade im Warenkorb liegen haben.
Mehr als nur günstig: Das Suchtpotenzial
Suchtforscher warnen vor den langfristigen Folgen dieser Gamification-Strategien. Mark Griffiths, Professor für Verhaltenssucht an der Nottingham Trent University, sieht klare Parallelen zum Glücksspiel (externer Link; möglicherweise Bezahl-Inhalt): „Ich denke nicht, dass Menschen den ganzen Tag auf Temu verbringen würden… aber wie beim Glücksspiel ist Shopping eine kommerzielle Aktivität und selbst wenn man nicht viel Zeit damit verbringt, kann man dabei über sein verfügbares Einkommen hinausgehen.“
Temu unterscheidet sich dabei deutlich von Konkurrenten wie Shein. Während andere Billig-Plattformen ebenfalls niedrige Preise nutzen, setzt Temu deutlich stärker auf animierte Elemente und Gaming-Mechaniken. Das Versprechen kostenloser Geschenke führt Nutzer in einen Teufelskreis aus immer neuen Bedingungen – mehr Freunde werben, mehr kaufen, mehr Zeit investieren.
EU-Kommission will gegen Temu vorgehen
Die Politik reagiert zunehmend alarmiert auf Temus Methoden. Das deutsche Bundesverbraucherschutzministerium kritisierte die manipulativen Verkaufspraktiken bereits vergangenes Jahr und forderte konsequente Durchsetzung bestehender EU-Gesetze.
Nun will auch die EU-Kommission härter gegen Temu vorgehen. Neben den psychologischen Tricks stehen auch fragwürdige Bewertungen, Steuer- und Zolltricks in der Kritik. Vor allem aber sind zahlreiche Artikel, die auf der Plattform angeboten werden, nach EU-Recht illegal – weil sie Verbraucher gefährden.
Sylvia Maurer vom Europäischen Verbraucherschutz-Verband BEUC nennt Beispiele: „Wir finden sehr viele bedenkliche Chemikalien in Kinderspielzeug oder in Kosmetika. Aber auch Elektroprodukte, die Feuer verursachen können oder elektrische Schocks. Rauchmelder, die keinen Rauch melden. Motorradhelme, die absolut keinen Sicherheitsstandards entsprechen und sofort brechen.“
Die EU-Kommission wirft Temu vor, nicht ausreichend gegen Verkäufer illegaler Artikel vorzugehen und droht dem chinesischen Unternehmen mit einer empfindlichen Geldstrafe von bis zu sechs Prozent des weltweiten Gesamtumsatzes, sollte es die Vorwürfe nicht entkräften können.
Die Zukunft des Online-Shoppings?
Temus Erfolg könnte andere Anbieter dazu verleiten, ähnliche Strategien zu übernehmen. Bereits jetzt experimentieren große Marken wie Starbucks und Sephora mit Gaming-Elementen in ihren Belohnungsprogrammen. Selbst Luxusmarken wie Lacoste integrieren Spiele in ihre Online-Shops.
Doch Experten bezweifeln, dass Temus Modell langfristig erfolgreich kopiert werden kann. Das Unternehmen kann sich nur deshalb derart aggressive Preise leisten, weil es bewusst Verluste in Kauf nimmt, um Marktanteile zu gewinnen. Kleinere Anbieter können oft nicht einmal ihre Einkaufspreise unterbieten, geschweige denn profitabel konkurrieren.